von Sophia Thomsen
Um den Cherub aus glasierter Keramik windet sich blau-weiß das Treppenhaus, gefliest mit Delfter Kacheln. Ich drehe mich, ich lege den Kopf in den Nacken und die ganze Welt ist zersprungen in tausend winzige Augenblicke, gemalt in Kobalt und weiß. Und über die Fliesen tausendfach verstreut: ein Schäfer und eine Schäferin, ein Hund und Schafe, die Windmühle und – in der Ferne – ein Dorf.
Äste schrauben sich in den blinden Himmel. Mit geblähten Röcken sitzt die Schäferin unter einer geballten Weide. In der Ferne taumeln Schafe über Anhöhen. Blau-weiß klappert die Windmühle.
Um die Hosen des Schäfers springt ein Hund. Kobaltblau kämmt das Gras den tiefen Himmel.
Von Büschen gesäumt spaziert die Schäferin ohne den Schäfer über das flache Land und spreizt dabei Fächer aus Gras. Ihre Hutbänder verfangen sich in den Windmühlenflügeln. Zart bauschen sich Schafe zu ihren Füßen.
Unter dem starren Himmel fließt die Landschaft dahin, Wolken bleiben in den Gräsern hängen. Ein Kranich stakst an der fehlenden Weide vorbei. Bis zu den Knien im Dorf sucht die Schäferin den Schäfer, und die Mühle, und den Hund.
Äcker treiben vorbei und unter den Füßen des Schäfers hinweg. Blau zittert das Gras. Am Horizont brauen sich Schäfchen zusammen. Schäferstündchen ohne Schäferin.
Das Gebüsch krallt sich in den weißen Himmel. Hügel schlagen über der einsamen Schäferin zusammen. Mit dem Hirtenstab sticht sie in den Himmel, und sucht dort weiter. Vom Findling blicken zwei Schäfchen herüber.
Der Hund ist im Sprung erstarrt, sein Löwenmaul zu einem zinnlasierten Bellen aufgerissen. Stumm steht die Weide mit den Korkenzieherzweigen. Allein im Delfter Blau sitzt die Schäferin. Gefrorene Hutbänder zacken in den Himmel. Schraffierte Buckel quellen aus einer Landschaft, in der die Windmühle fehlt.
Mein Blick streift über die Fliesen aus Delft und sucht nach der Handlung, die sich dort entspinnen sollte. Ich verheddere mich in den feinen blauen Linien, rutsche ab und finde die Erzählung von der Schäferin nicht, die ausgebreitet über das ganze Treppenhaus so offen vor mir liegt und sich doch verschließt.
Wenn ich doch mit dem Kopf nach unten hängend, mich wie eine Fliege in jeder Richtung über die glatte Oberfläche bewegend, wenn ich mit Facettenaugen die zersplitterte Welt wieder zusammenfügen könnte, dann könnte ich die richtige Geschichte erzählen.
Denn dann wären endlich Schäfer und Schäferin, Hund und Schafe, das Dorf und die Mühle vereint und die Welt wieder ganz.
Wunderschöner Text …
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Dankeschön!
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