„Weit draußen im Meere ist das Wasser so blau wie die Blätter
der schönsten Kornblume und so klar wie das reinste Glas.“
(Hans Christian Andersen: Die kleine Meerjungfrau, 1837)
Heutzutage ist das Wasser nicht mehr klar und nicht mehr rein. Es ist grau wie Beton und trüb wie die Plastiktüten, die darin herumtreiben. Nur manchmal an einigen wenigen Sonnentagen, wenn die Strahlen das Wasser richtig treffen, dann schimmert es in allen Farben von Flaschen, Fischkisten und auch Badelatschen. Aber am schönsten funkeln die Glühbirnen, in denen sich das Licht wie ein Regenbogen bricht.
Es gibt viele Geschichten über Meerjungfrauen, die vergnügt im Wasser tollen. Aber das Spiel hatte sich verändert. Doch die Undine, die auf dem Felsen saß und sich Fetzen von Fischernetzen ins Haar flocht, war zu jung, um sich noch an ein früheres Spiel erinnern zu können. Sie wuchs mit von Menschen überfüllten Stränden und von Schiffen und Frachtern bevölkertem Meer auf.
Und so saß sie nun und flocht und beobachtete das Nehmen und das Geben des Meeres. Jede Welle, die über den Strand flutete, nahm beim Verebben etwas Sand mit sich mit, nachdem sie zuvor Äste, Tang und totes Getier hervorgewürgt und am Strand zurückgelassen hatte. Dann sah sie etwas, das sie zuvor noch nie gesehen hatte. Sie sprang ins Wasser und schwamm soweit ans Ufer, dass ihr Fischschwanz noch vom Meer bedeckt war. Sie kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, was da am Strand lag. Anfangs hatte sie es für eine Plastiktüte gehalten, aber jetzt sah sie etwas, das die Form eines Schirms hatte, der aus einer durchsichtigen Masse bestand, die bei dem kleinsten Windhauch erzitterte. Aus dem Boden des Schirms schien etwas hervorzubrechen, das aus der gleichen Substanz war. Es sah aus, als hätte der Schirm seine Innereien verloren, die nun aus ihm hervorquollen.
Quollen … quollen … Waren das nicht Tiere?, fragte die Undine sich. Gab es die noch? Diese Quallen?
Sie zuckte zusammen, als sie eine Bewegung bei dem gallertartigen Lebewesen sah. Es lebte noch. Noch. Wie lange konnte es wohl überleben, außerhalb des Wassers? Die Undine beobachtete den Todeskampf der Qualle. Sie sah, wie die Qualle austrocknete und schließlich nur noch ihre ausgedörrte Haut und ihre Nesseln übrig blieben. Es dauerte nur wenige Stunden, bis die Substanz aufhörte zu pulsieren und zu zittern.
So sehr die Undine von dem Prozess fasziniert gewesen war, so angewidert war sie von dem Etwas, das dort lag. Und als sie sich umsah, erkannte sie, dass am ganzen Strandufer einzelne Quallenleichen lagen. Dieses wabbelige Nichts, auch als es noch Etwas gewesen war, war doch der eigentliche Müll des Meeres und sie konnte das Wasser verstehen, dass es dieses loswerden wollte. Denn sie konnte ja nicht wissen, wie wunderschön, farbenprächtig und anmutig diese Kreaturen im Wasser waren.
Sie spürte ein Drängen des Meeres, dass sie wieder zu sich zog. Da musste ein Schiff in der Nähe sein. Und wo ein Schiff war, da waren auch Menschen, da war etwas Bekanntes.
Vermerk: Dieser Text ist bereits am 15.03.2019 auf dieser Website publiziert worden.