Es hat nicht sollen sein…

von Annika Kemmeter

Ich studierte zum vierunddreißigsten Mal die Wagenreihung des ICE 506 auf dem weißen Plan hinter Glas, als mein Kollege unseren Chef auf die Gleise schubste. Herr Sörge schrie nicht, als er in das Gleisbett fiel. Er machte ein vages, verwundertes Geräusch, „Uah!“, ähnlich dem Geräusch, das man macht, wenn mit Sekt gefüllte Gläser auf einem Tablett ins Wanken geraten. Oder wenn man im Begriff ist, seinen Fuß in einen Hundehaufen zu setzen, es aber im letzten Augenblick bemerkt. Oder wenn man den Weihnachtsschmuck die enge Kellertreppe hinunterbringen möchte und plötzlich eine Katze vor deinen Fuß springt. Ein solches Geräusch machte Herr Sörge. Und dann hörte man das Geräusch eines aufkommenden Körpers.
Da ich in diesem Augenblick zum vierunddreißigsten Mal die Wagenreihung unseres ICEs studierte hatte, stand ich etwas abseits von Christian und Herrn Sörge. Nun, da neben Christian niemand mehr stand, war mein erster Impuls zum Rande des Bahnsteigs zu laufen. Dann bemerkte ich, dass der abwesende Herr Sörge nichts rief oder sagte. Nicht mal stöhnte. Und ein Bild schoss mir in den Kopf, wie er auf den Gleisen lag: Den Schädel auf den Schienen blutig geschlagen und die Beine in ungesunder Haltung verdreht.
Erste Impulse habe ich gut im Griff. Ich habe mir antrainiert, nicht immer sofort zu handeln. Erst die Lage zu checken. Niemandem auf den Schlips zu treten. Ich entschied mich, erst mal stehen zu bleiben und zu sehen, was geschehen würde. Ich sah mich um. Nichts geschah.

Der mittelgroße Bahnhof dieser mittelgroßen Stadt war beinahe menschenleer. Vorhin hatte ich noch einen Mann gesehen, der mit einem Reinigungswagen über die Bahnsteige gefahren war. Herr Sörge, Christian und ich sowie vereinzelte andere Menschen waren die letzten Hoffnungsvollen, die trotz zweistündiger Verspätung immer noch auf den Zug warteten. Wir verteilten uns weiträumig auf dem Bahnsteig. Dort ein alter Mann, da eine junge Frau. Eine in dicke Daunenjacken gehüllte Familie schlief zwischen ihren Taschen und Koffern auf den kalten, in Sitzgelegenheiten unterteilten Bänken. Alle, die nicht schliefen, waren in ihre Handys vertieft. Wahrscheinlich schnickten sie durch Tiktok-Videos oder hörten Podcasts. Ich selbst hatte noch die Stöpsel meines Handys im Ohr. Gerade hatte ich einen Literaturpodcast gehört. Die Folge sollte anderthalb Stunden dauern und ich hatte mir überlegt, ob ich sie überhaupt einschalten sollte. Ich mochte es nicht, wenn Dinge unterbrochen wurden. Und ich hatte nicht erwartet, dass sich die ursprüngliche Wartezeit von 35 Minuten nahezu vervierfachen würde. Doch die anderen Themen interessierten mich nicht, also hatte ich mich doch für diese Folge entschieden. Es war ein Krimi über eine Serie versuchter Morde. Als mein Kollege unseren Chef in die Gleise schubste, war die Podcast-Folge längst beendet. Ich hatte nur vergessen die Stöpsel aus meinen Ohren zu nehmen. Vielleicht war das „Uah!“ meines Chefs also doch lauter gewesen und nicht so vage, wie ich es angenommen hatte? Ich nahm die Stöpsel aus den Ohren.

Christian starrte bewegungslos auf die Schienen. Oder auf Herrn Sörge. Er wandte sich nicht zu mir. Da er mit dem Rücken zu mir stand, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. „In Kürze fährt ein der ICE 506 auf Gleis“ die Ansage machte eine Pause und entschied sich dann: „fünf. Geplante Abfahrtzeit war 22:45 Uhr. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt.“ Dass Christian unseren Chef auf die Gleise geschubst hatte, hatte ich in der Spiegelung des Glaskastens gesehen. Jetzt fragte ich mich, ob Christian vielleicht annahm, dass ich die Abwesenheit unseres Chefs nicht bemerken würde. Und falls doch, ob er dann annahm, dass ich sie nicht mit ihm in Verbindung bringen würde. Ich wollte Christian nicht vor den Kopf stoßen. Er ließ sich schnell aus der Ruhe bringen.

Jedoch standen wir auf Gleis fünf und der ICE würde jeden Augenblick einfahren. So ungern ich mich in fremde Angelegenheiten einmischte, fühlte ich, dass ich moralisch in der Pflicht stand, etwas zu unternehmen. Doch wie konnte ich das tun, ohne Christian zu beschämen? Ich probierte es mit etwas Unverfänglichem: „Jetzt kommt der Zug ja endlich“, sagte ich. Christian reagierte nicht. Er starrte immer noch in das Gleis. Ich sah in der Ferne die Lichter unseres ICEs und ich nahm mit aufgestellten Nackenhaaren wahr, wie zügig sie sich näherten. Da Christian es nicht tat und auch sonst niemand, fand ich mich in der unangenehmen Lage wieder, selbst handeln zu müssen. Ich fragte also: „Christian, wo ist denn Herr Sörge? Unser Zug fährt gleich ein.“
Doch Christian antwortete nicht. Vielleicht sollte ich die Notbremse ziehen?

Notbremsen gibt es nicht nur in Zügen, sondern auch an Bahngleisen. Darunter steht meistens ein Satz, der einen davon abzubringen versucht, die Notbremse zu ziehen. „Missbrauch ist strafbar“, oder ähnliches. Manchmal auch „Jeder Missbrauch wird zur Anzeige gebracht.“ Ich hatte tatsächlich schon mehrere Notsituationen erlebt, in denen Menschen sich davon abhalten ließen, die Notbremse zu ziehen. Daher hatte ich eine feste Meinung zu diesen Hinweisen entwickelt. Sie waren lebensbedrohlich. Viel mehr sollte darunter stehen: „In Notsituationen ziehen. Unterlassene Hilfeleistung wird zur Anzeige gebracht.“ Daran dachte ich, während ich auf eine Antwort von Christian wartete. Doch Christian reagierte nicht. Also sagte ich, man konnte übrigens schon den Zugführer in seiner Kabine erkennen, „Der Zug kommt jetzt.“

„Scheiße!“ Christian fluchte leiser, als ich es für angemessen hielt. Dann sprang er in das Gleis. Dieser plötzliche Impuls sprang auf mich über. Ich spürte, wie sich die Unsicherheit löste und sich in Energie verwandelte. Ich entdeckte die Notbremse. Sie hing tatsächlich neben dem Glasschaukasten mit den Wagenreihungen. Die letzten Warteten reihten sich am Bahnsteig auf, die Koffer in den Händen. Der alte Mann schlug sich die Müdigkeit aus den Beinen. Der Zug war fast auf unserer Höhe, nur noch vielleicht zwanzig Meter von uns entfernt, als ich die Notbremse zog.

Da tauchte Christian aus dem Gleisbett auf. Herrn Sörge hielt er in den Armen, wie ein zu großes Kind, das nach einer langen Autofahrt ins Bett getragen werden möchte. Er sah mich an und sagte: „Wir haben uns geliebt, aber er wollte nicht …“ Ich las die Worte mehr von seinen Lippen ab, als dass ich sie hörte, denn die Bremsen quietschten ohrenbetäubend. Nichtdestotrotz wurden Christian und Herr Sörge von dem Zug erfasst, bevor Christian den Satz zu Ende bringen konnte. Ich blieb stehen, wo ich stand, die Hand an der Notbremse. Es gab einen unheimlichen Aufruhr. Menschen, die herbeieilten. Wo kommen die alle her?, fragte ich mich. Doch dann verstand ich. Sie kamen aus dem Zug. Sicher ärgern sie sich, dass sich die Verspätung noch vergrößert, dachte ich. Sie sind schon zwei Stunden zu spät, und dann kommt ein Personenschaden dazu. Personenschaden, dachte ich. Personenschaden. Polizei war auch da. Jemand kümmerte sich um mich. „Kannten Sie die beiden?“ Ich nickte. „Sie stehen unter Schock.“ Ich nickte. Personenschaden. Dachschaden. Schädlich. Schändlich. Schändliche Personen. „Sie haben sich geliebt“, sagte ich schließlich. Ich hatte es nicht gewusst. Nicht einmal geahnt. Nicht einmal geahnt, dass sie schwul waren. Ich war etwas stolz. Ich schnüffelte nicht in Privatangelegenheiten herum. Ich steckte meine Nase nicht in Dinge, die mich nichts angingen. Ich blieb für mich und ließ die anderen ihre Sache machen. So hatten wir es immer getan. Immer neutral bleiben. Dann kommt man nicht unter die Räder.

„Sie haben die Notbremse gezogen, nicht wahr?“, fragte die Polizistin. Ich nickte. „Sie können die Notbremse jetzt loslassen. Sie haben getan, was sie konnten. Mehr hätten Sie nicht tun können. Sie haben das Richtige getan. Es hat nicht sollen sein.“

Ich dachte an Thomas Gottschalk. Es hat nicht sollen sein, dachte ich mir. Diese ganze Reise. Ich nahm meinen Rollkoffer und zog ihn hinter mir über den Bahnsteig. Ich würde zurückfahren, zum Tagungshotel, mir dasselbe Zimmer nehmen, aus dem ich vor ein paar Stunden ausgezogen war, und morgen nach Hause fahren. Die Worte der Polizistin legten sich wie Balsam auf meine Seele. „Sie haben getan, was sie konnten. Es hat nicht sollen sein.“ Ich steckte die Stöpsel in meine Ohren und tippte auf den nächsten vorgeschlagenen Podcast-Beitrag. Nachtgedanken. Es hat nicht sollen sein, dachte ich, dann versank ich in die Geschichte, die durch die Stöpsel in mein Bewusstsein drang, bemerkte, dass sich meine Lunge in den letzten Stunden sehr beengt angefühlt hatte, und atmete tief ein und aus.

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. wildgans sagt:

    Spannend, überraschend, gefühlvoll, und immer die Hand an der Notbremse. Habe geliebt, das zu lesen!

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    1. annikakemmeter sagt:

      Vielen Dank! 🙂

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