Was Gaba hörte

von Verena Ullmann

Ich stieg die Steintreppe 78 nach unten und tastete meinen Weg zu Gaba. Sie erlauschte mich schon an meinen Schritten – Gaba wusste immer, wer gerade im Anmarsch war – und ich erkannte sie an ihrem Geruch.

„Da bist du ja! Wir müssen los“, flüsterte sie, denn in ihrem Gewölbe war das Echo besonders stark und machte einen schwindelig.

Ich umarmte sie und fühlte sogleich ihr neues Kleid. Das Gewebe war noch rau, die Fäden noch nicht miteinander verwachsen. Ich bewunderte die feine, gleichmäßige Struktur.

„Wie hast du das so schnell hinbekommen?“, fragte ich sie.

„Von wegen schnell! Das hat bestimmt ein halbes Jahr gedauert. Was macht dein Zahn?“

„Welcher Zahn?“ Ich musste kurz auflachen, bis ein Ziehen im Zahnfleisch und das wummernde Echo mich wieder verstummen ließen.

Gaba tastete meine Wangen ab, von denen eine immer noch deutlich dicker war.

„Ist er … weg?“

„Besser: Diw konnte mir gestern sogar noch einen neuen machen! Der fühlt sich genauso an wie die anderen. Hält nur noch nicht so gut. Gehen wir?“

Vor drei Jahren hatten wir noch in der Knollenzucht gearbeitet. Eine schmutzige Arbeit, die einem den Rücken steif machte. Dort hatte ich Diw kennengelernt, der alle Arten von Steinen unterscheiden und alles Mögliche daraus herstellen konnte. Er hatte immer ein paar in seinen Kleidtaschen. Inzwischen waren Gaba und ich zu Seidenwurzelwäscherinnen befördert worden. Das war angenehmer für unseren Rücken, aber setzte unseren Händen zu. Da half es auch wenig, dass wir sie an unseren freien Tagen in geölte Tücher wickelten. „Ich habe jetzt schon Hände wie meine Mutter!“, jammerte Gaba immer und wollte sie niemandem mehr geben außer mir.

Die in der 5. Höhle gespannten Seile führten uns zu unserem Arbeitsplatz. Zwei hohe Becken, einander gegenüber. Je mit einem Zulauf und einem Ablauf. Ich prüfte mit meinen Armen den Wasserstand. Ein Gong ertönte, der meine Knie vibrieren ließ und die ersten Wurzelknäuel wurden in mein Becken gespült. Zu Schichtbeginn war es immer ruhig und man hörte nur das Wasser fließen. Dann begann das Geflüster. Wenn es zu laut wurde und unsere Konzentration störte, folgte der nächste Gong. Doch unsere Abteilung hatte sich meistens gut unter Kontrolle und mehr als eine Ermahnung pro Schicht war nie nötig. Ich sprach sowieso nur noch mit Gaba, nachdem ich herausgefunden hatte, das Bouta immer alles weitererzählte.

„Hast du’s gehört?“, flüsterte Gaba, „Nisi war gestern oben!“

„Ich glaub nicht, dass sie oben war. Die will sich doch nur wichtigmachen.“

„Wenn ich’s doch sag! Sie war oben! Draußen, mein ich. Da ist es noch viel größer als in der 1. Höhle. Keine Wände, nirgends! Die Luft ist ganz trocken und man hört viele verschiedene Geräusche, hat sie Bouta erzählt.“

„Ja aber was soll man denn hören, wenn da niemand ist?“, fragte ich.

„Vielleicht sind da ja andere Menschen und Tiere als hier unten. Aber weil so viel Platz ist, fühlt man sie nicht gleich. Stell dir das mal vor!“

„Und warum ist sie dann überhaupt zu uns zurückgekommen?“

„Sie hat Durst gekriegt und ihr Kopf tat ihr so weh“, sagte Gaba.

„Na toll, was will ich dann da? Mir reichen schon meine Zahnschmerzen“, antwortete ich und warf ein paar Kiesel, die sich am Boden abgesetzt hatten, in die Schale.

„Du verstehst das nicht. Es ist einfach ganz anders als hier unten.“

„Vor allem ist es gefährlich! Es geht doch alle paar Jahre jemand raus und kommt nicht zurück“, sagte ich, „Nur die Verrückten machen das! Und die Selbstmörder …“

„Psst! Nicht so laut! Nisi war schlauer! Angeblich hat sie ein Seil zum Tunnel gelegt, damit sie wieder zurückfindet.“

„Das ist total dumm! Stell dir mal vor, ein riesiges, gefährliches Tier wäre durch den Tunnel zu uns reingekommen! Dass Nisi sich nicht schämt, so etwas zu erzählen … “

„Musst du immer alles schlechtreden? Ich würde gerne mal hoch gehen! Zumindest ein einziges Mal. Ganz kurz. Einmal was anderes erleben. Ich will nicht mein ganzes Leben lang nur Wurzeln waschen und mir meine Hände kaputtmachen!“

Gabas Stimme brach. Ich wischte mir meine Hände am Kleid ab und streichelte ihr über den Kopf. Ich ertrug es nicht, sie weinen zu hören.

„Musst du doch gar nicht! Wenn wir beide noch zwei Kinder bekommen, dann können wir in die Aufzuchtstation wechseln“, schlug ich vor.

„Da ist es doch viel zu laut und stinkig. Da will ich auf keinen Fall arbeiten!“, motzte Gaba und schniefte.

„Ich schon“, sagte ich, „Unbedingt!“

„Wo ist dann dein Bauch? Sind dir die Männer wieder nicht gut genug?“, stichelte sie.

„Diesen Turnus sind für unsere Gruppe nur noch Tur, Pri und Eel frei, wenn überhaupt.“

„Echt? Was ist mit Diw und Urt?“, fragte Gaba.

„Die müssen dieses Mal pausieren. Da hätten wir uns besser absprechen müssen.“

„Schade.“

Jemand holte unsere ersten beiden Fuhren Wurzeln ab und leerte die Kiesschalen. Er roch ein bisschen wie Pri, aber er sagte nichts. Gaba kicherte. Als wir wieder allein waren, griff sie meine Hände im Becken, streckte ihren Kopf herüber und flüsterte:  

„Ich habe eine Idee: Du holst dir ein Kind von Diw und ich rede mit Pri, dass er sich für ihn meldet, ok? Und du gehst mit mir dafür bis zum Ende des Tunnels, ja?“

„Spinnst du, Gaba? Auf keinen Fall!“, sagte ich, ein wenig zu laut, „Das dürfen wir nicht!“

„Feigling“, zischte Gaba, ließ mich los und sprach die ganze Schicht nicht mehr mit mir.

Als ich am nächsten Tag in ihr Gewölbe kam, war sie nicht mehr da. Man erzählte sich, dass Gaba nach oben gegangen wäre. Alle warteten darauf, dass sie zurückkam, aber nichts passierte. Ich war kurz davor, Bouta nach dem Tunnel zu fragen, aber Urt, der alles gehört hatte, hielt mich davon ab.

Gabas Platz am Wurzelbecken wurde schließlich von Nisi übernommen. Ich mochte nicht, wie sie roch und sich ständig räusperte. Drei Tage schwiegen wir uns an, dann fragte sie mich, ob ich ein Problem mit ihr hätte. 

„Wärst du nicht rausgegangen, wäre Gaba noch hier“, sagte ich zu Nisi und versuchte, mein Schluchzen zurückzuhalten.

„Aber ich war doch noch nie draußen“, antwortete Nisi, „Wer hat dir das denn erzählt?

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