Das geheime Märchen

von Annika Kemmeter

Johanna betrat behutsam die Schreibstube ihres Herrn. Durch den Türspalt fiel dämmrig das Morgenlicht ins Zimmer. Sie schloss die Tür hinter sich und sah sich um. Regale voller Bücher verstellten die Wände. Über die Regalbretter kroch eine feine Staubschicht an die Buchrücken heran, die sich alt und runzlig aneinanderdrängten und schwiegen. Wenn man die Bücher aber öffnete, was würden sie dann erzählen? Sie wirkten weise. Auf jeden Fall anders als die Schulfibeln. Ehrwürdiger. Johannas Mutter hatte es für reine Zeitverschwendung gehalten, dass Johanna in die Schule gegangen war. Sie sollte ohnehin als Dienstmädchen arbeiten. Johanna hatte jedoch Gefallen am Lernen gefunden und war dankbar, in Grimms Haus arbeiten zu dürfen. Ausgerechnet bei einem der Grimms! Sie trat an den mächtigen Schreibtisch. Bögen über Bögen Papier, beschrieben mit den schwungvollen Schnörkeln ihres Herrn, bedeckten ihn. Jetzt nicht zu tief atmen, dachte Johanna, sonst fliegen die filigranen Buchstaben davon! Auf einem Bogen stand das Tintenfass mit der grünen Feder. Bethel, die hier für Ordnung gesorgt hatte, bis sie zu alt wurde, hatte Johanna freundlich und nachsichtig in den Haushalt eingeführt: „Die Schreibstube betrittst du nur, wenn Herr Grimm es ausdrücklich wünscht. Wahrscheinlich nur dann, wenn er auf Reisen ist. Und die Zettel darfst du nicht anrühren. Es könnte sein, dass seine Wörter noch nicht getrocknet sind. Du willst sie nicht durcheinanderbringen, darum hüte dich, sie auch nur anzufassen. Wische einfach drumherum so gut es geht.“

Johanna verschränkte ihre Finger hinter ihrem Rücken. Hier waren sie sicher und konnten nicht aus Versehen etwas streifen und zerstören. So stand sie über den Schreibtisch gebeugt und versuchte im Dämmerlicht des Westfensters etwas zu entziffern. Auf einem der Blätter prangte eine Überschrift: Der Wolf und die sieben Geißlein. Es klang nach einer Fabel. Auf einem anderen Blatt las sie einen lustigen Absatz über einen glücklichen Hans. Es war, als wären diese Geschichten extra für Kinder geschrieben, auf Deutsch statt auf Latein und in leicht verständlichen Wörtern.

Ein Glücksgefühl rauschte durch Johannas Brust. An die Arbeit!, dachte sie, atmete tief ein – und nieste. Erschrocken sah sie zu den Blättern auf dem Tisch. Aber alles schien in Ordnung. Wahrscheinlich hatte Bethel übertrieben. Johanna öffnete das stumpfe Fenster, ging aus der Stube und kam mit ihrem Wischlappen und dem Wassereimer zurück. Sie verwirbelte die Spinnweben an der Decke, und wischte die Regale, wobei sie darauf achtete, die Bücher nicht zu berühren. Noch nie hatte Putzen ihr so viel Freude bereitet. Kurz bevor sie sich an den Schreibtisch machte, an dem sie immerhin die Vorderseiten der Schubladen abstauben konnte, hörte sie ein Klopfen an der Haustür. Sie legte ihren Lappen sorgsam auf eins der Bücherregale und ging zur Tür. Der Postbote überreichte ihr einen Brief an Herrn Grimm. Ein Windzug fuhr durch Johannas Haare und ihr „Dankeschön“ wurde von einem lauten Knall verschluckt. Erschrocken fuhr sie um. Die Tür der Schreibstube war ins Schloss gefallen. Sie nickte dem Postboten zu und eilte zurück in die Stube. Als sie die Tür öffnete, bestätigten sich ihre schlimmsten Ahnungen. Die Blätter waren vom Luftzug aufgewirbelt worden und lagen nun überall in der Schreibstube – blank und unbeschriftet! Als hätte sie nie jemand beschrieben!

Wie zierliche, braune Schneeflocken hatten sich die Wörter von ihnen gelöst und auf den Holzdielen verstreut. Nur hier und da hing noch schlaff ein Wort von seinem Bogen herab. Genau davor hatte Bethel sie doch gewarnt! Die Tinte war noch nicht trocken gewesen, sie hatten sich mit dem Papier noch nicht verbunden!  Entsetzt starrte Johanna auf den Boden. Wie sollte sie das wieder in Ordnung bringen? Auf die Starre folgte fiebrige Geschäftigkeit. Sie musste die Geschichten wiederherstellen. Die kostbaren Wortschnörkel wieder an die Bögen heften, damit sie dort trockneten, und sich nicht etwa mit dem Holzboden verbanden. Die geschwungenen Schriftzüge waren zart wie getrocknete Fliegenflügel: Fasste man sie an, drohten sie zu zerreißen. Mit pochendem Herzen öffnete Johanna eine Schreibtischschublade nach der anderen. Endlich fand sie, wonach sie suchte: Eine Pinzette. Außerdem hatte sie in der oberen Schublade kleine Kästchen entdeckt. Sie leerte deren spärlichen Inhalt auf dem Schreibtisch aus, da fiel ihr Blick auf das Blatt, auf dem das Tintenfass stand. Wie ein Briefbeschwerer hatte das Fässchen den Bogen am Davonfliegen gehindert. Jetzt, da er nicht mehr von anderen Blättern verdeckt war, konnte sie lesen, dass es sich dabei um eine Übersicht handelte. „Kinder- und Hausmärchen“ stand oben und darunter eine Aufreihung der Geschichten, die Herr Grimm und sein Bruder offenbar zusammengetragen hatten. Sie fand den Wolf und die sieben Geißlein wieder und auch Hans im Glück. Schneewittchen, las sie und Das tapfere Schneiderlein. Johanna dankte Gott, dass diese Liste erhalten geblieben war. Dann kniete sie sich auf den Boden, sorgsam darauf achtend, dass sie dabei keins der herabgefallenen Wörter zerdrückte, und pickte mit der Pinzette ein Wörtchen nach dem anderen auf. Sie sortierte die Wörter nach ihren Arten in die leeren Kästchen: Hauptwörter unterschied sie von Verben, Begleiter von Adjektiven. Ihr fielen Wörter auf, die waren im Ganzen größer geschrieben als die anderen. Sie mussten einmal Titel gewesen sein. Sie legte Die Wichtelmänner auf einem Bogen ganz nach oben und das Rumpelstilzchen auf einem anderen. Märchen, die ihre Großmutter ihr erzählt hatte, waren das. Nachdem sie alle Wörter sortiert hatte, ordnete Johanna sie den verschiedenen Geschichten zu. Dabei half ihr die Sonne, die langsam ums Haus gewandert kam und ihr Licht in die Schreibstube schickte. Johanna erkannte nun verschiedene Brauntöne in den Wörtern. Einen unauffälligen Farbverlauf, an dem sie nachvollzog, wann Herr Grimm seine Feder ins Fass getaucht haben musste. Waren die Wortschnörkel blass, fast schon farblos, würden bald welche in kräftigem Braun folgen. Als die Sonne unterging, nahm Johanna eine Öllampe zur Hilfe. Sie hatte auch eine Lupe gefunden, mit der sie hin und wieder Wortabdrücke im Papier entdeckte. Mit größter Konzentration und Vorsicht legte Johanna ein Wort neben das andere zurück aufs Papier. Manchmal riss ihr ein Wort dabei, zum Beispiel das Wort „aber“, manchmal verklebten in dem Kästchen welche miteinander. Die Wörter „Schönste“ und „Königssohn“ wollten einander nicht mehr loslassen und wurden so unbrauchbar. Doch Johanna bezweifelte, dass es Herrn Grimm auffallen würde, wenn hin und wieder Wörter in den Sätzen fehlten. Sie gestaltete die Sätze ja trotzdem so, dass sie Sinn ergaben. Je länger sie über den Kinder- und Hausmärchen brütete, desto mehr Erinnerungen wurden in ihr wach. Sie erinnerte sich plötzlich, dass nicht nur ihre Großmutter ihr zum Einschlafen Märchen erzählt hatte. Auch ihr Onkel hatte an manchen Geburtstagen welche zum Besten gegeben. Der Hase und der Igel und Die Bremer Stadtmusikanten kamen ihr bekannt vor. Es gelang ihr, die Märchen mithilfe der Wortschnörkel so zusammenzusetzen, dass sie Johannas Erinnerungen entsprachen.

Der Morgen graute, als Johanna die fertigbeschriebenen Seiten vorsichtig auf dem Tisch ausbreitete. All die Märchen von der Liste hatte sie wieder zusammengeflickt. Sorge bereitete ihr einzig, dass noch drei weiße Blätter und einige Wortschörkel übriggeblieben waren. Sie legte diese ordentlich nebeneinander auf die Blätter, dann beschloss sie, dass sie ihr Bestes gegeben hatte und ging schlafen.

Als sie am nächsten Tag erwachte, drehten sich ihre Gedanken bereits um die übrig gebliebenen Wörter. Vielleicht hatte Johanna sogar von ihnen geträumt, so sanft war der Übergang vom Schlafen ins Wachen gewesen. Sie stand auf, machte sich einen Tee und nahm sich einen Apfel. Dann ging sie zurück in die Schreibstube. Die Wörter waren mittlerweile alle fest mit dem Papier verbunden. Sie holte aus ihrem Schneiderkästchen eine Schere und schnitt die Wörter aus. Dann legte sie sie auf den Boden, wo sie die Wörter hin und her schob. Immer wieder huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie nahm ein paar Bögen Papier aus dem Papierfach und schrieb mit Herrn Grimms Feder und Tinte die Geschichte ab, die sie auf dem Boden vor sich zusammengelegt hatte. Manchmal fehlte ein Wort, manchmal ein ganzer Satz, den sie einfach dazu dichtete. Auch die Überschrift entnahm sie ihrem Kopf und nicht der Sammlung kleiner Wortschnörkel. Als sie den letzten Satz geschrieben hatte, war ihr so wohl ums Herz, als hätte sie etwas Großes vollbracht. Dann räumte sie die kleinen Gegenstände zurück in die kleinen Schachteln und diese zurück auf ihren Platz in der Schublade.

Ein paar Tage später kam Herr Grimm nach Hause. Er war bester Laune, besah sich seine Märchen, deren Tinte getrocknet war, und schob sie zu einem Stoß zusammen. „Gibt es etwas neues, Johanna?“, fragte er. „Ein Brief ist gekommen“, antwortete sie und wurde rot. Herr Grimm hatte nichts bemerkt!

Am Abend holte Johanna ihre Bögen unter ihrem Kopfkissen hervor. Sie las, was sie geschrieben hatte. Wörter, die wie Schneeflocken vom Papier rieseln! Johanna lachte und schüttelte ungläubig den Kopf. „Und so lebte das geheime Märchen weiter, heimlich aber glücklich bis zum Ende seiner Tage“, flüsterte Johanna den letzten Satz ihres geheimen Märchens. Zufrieden legte sie die Papierbögen zurück unter ihr Kopfkissen. Es war ihr eigenes Märchen! Sie hatte beschlossen, es niemandem erzählen. Nur höchstens ihren Kindern. Und die vielleicht ihren. Dann ist es unser geheimes Familienmärchen, dachte Johanna und schlief ein. Und genauso kam es auch: Johanna, ihre Kinder und Kindeskinder erzählten einander das geheime Märchen abends zum Einschlafen. Und so lebte das geheime Märchen weiter, heimlich aber glücklich, bis ans Ende seiner Tage.

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4 Kommentare Gib deinen ab

  1. Wolfgang R sagt:

    Einfach nur schön!

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  2. Anna Neumann sagt:

    So genial! Wer wäre auf die Idee gekommen im Haushalt der Grimms zu arbeiten und inspiriert zu werden. Solche Geschichten zu schreiben. Ich habe mit Johanna mitgefühlt.
    Danke für die schöne Geschichte!

    Gefällt 1 Person

    1. annikakemmeter sagt:

      Oh, danke! Dein Lob freut mich sehr! Wo sonst kann man sich zu einem Märchen inspirieren lassen, wenn nicht bei Grimms zuhause? 🙂
      Märchen gehören eigentlich vorgelesen. Deshalb kann man es sich jetzt auch hier einfach anhören: https://www.instagram.com/p/CAe9qv2KrUN/

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