Akkordeon

von Verena Ullmann

„Wenn du bei IHR bist, ist es aus!“, schreibt Sarah. Ok, denkt Pierre. Endlich macht sie es ihm einfach. Er schickt ihr seinen Standort und blockiert ihre Nummer. Vor zwei Stunden ist sein Flugzeug gelandet. Er schwingt die lederne Reisetasche über seine Schulter und biegt in die Gasse ein, die sich zum Café schlängelt. Er hat keine Ahnung, ob Alice schon dort ist. Sie ist immer zu spät. Er aber auch. Links spielt ein Bettler Akkordeon, die Zähne so gelb wie die Tasten. Ein kleines Mädchen nähert sich und legt eine Münze in den Hut des Musikers. Pierre beschleunigt seinen Schritt. Er hat Kopfschmerzen von den grölenden Touristen im Flugzeug und von den letzten Tagen mit Sarah. Nach dem Eingriff war sie nur noch schwierig. Die bunten Markisen über ihm machen die Hitze erträglicher. Er rempelt versehentlich ein Fliegengewicht von Mann um, kriegt ihn an seinem T-Shirt zu fassen und bekommt zum Dank einen Flyer zugesteckt. Werbung für eine Wahrsagerin. Pierre folgt der Treppe rechts runter in die Passage, lässt den Flyer los und der Wind wirbelt ihn in eine dunkle Ecke. Mit der Schulter stößt er die Tür zum Café auf, ignoriert den winkenden Kellner und wählt den letzten freien Tisch an der Wand. Die Reisetasche knallt auf die Sitzbank. Er hat Lust auf einen Espresso, aber nun hat der Kellner keine Lust mehr auf ihn. Pierre blickt in den langgezogenen Spiegel neben sich, nimmt seine Sonnenbrille ab und streicht seine Haare nach hinten. Er hat sich gut gehalten, findet er. Aber der Pierre im Spiegel trägt nicht das schwarze Hemd, das sich Pierre heute Morgen angezogen hat, sondern ein weißes. Er setzt die Sonnenbrille wieder auf, schwingt die Reisetasche über seine Schulter und schlendert aus dem Café. Die Tür schwingt hinter ihm zu und schlägt ihm gegen die Schulter. Der Wind jagt durch die dunkle Passage und wirbelt ihm einen Flyer gegen die Brust. Werbung für eine Wahrsagerin. Pierre läuft die Treppe zur Gasse hoch, die sich in Richtung Busbahnhof schlängelt. Ein schlaksiger Kerl reißt ihm den Flyer aus der Hand, stolpert und kommt ins Straucheln. Pierre kriegt ihn am T-Shirt zu fassen, schiebt ihn aus dem Weg und läuft weiter. Die gestreiften Markisen über ihm flattern. Ihm ist übel von der lauten Stadt und den letzten Tagen mit Alice. Nach dem Tod ihrer Mutter war sie nur noch schwierig. Rechts sitzt ein Bettler und spielt Akkordeon. Die Fingernägel so schwarz wie die Tasten. Ein kleines Mädchen schleicht sich an und stiehlt eine Münze aus seinem Hut. Pierre beschleunigt seinen Schritt. Er hat keine Ahnung, ob der Bus zum Flughafen schon da ist. Der ist immer zu spät. Er selbst aber auch. In zwei Stunden geht sein Flugzeug. Er parkt seine lederne Reisetasche zwischen seinen Füßen und schickt Sarah seinen Standort. „Bin auf dem Weg zu dir.“ Idiot, denkt Sarah, endlich macht er es ihr einfach. Sie blockiert seine Nummer und streichelt ihren Bauch.

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