Die Faser aller Dinge

von Victoria Grader

Ein Leben wird in Zeit gemessen. Vielleicht kommt sie uns so real vor, weil der Moment, in dem wir sterben müssen, unausweichlich ist. Wir haben gehört, dass sie eine Illusion ist, erzeugt vom Ticken der Uhr, von jedem Korn, das im Stundenglas fällt. Aber sie existiert doch. Der Fluss hat nur eine Richtung. Stein wird zu Sand, ein Körper zu Staub.


„Und wo verflucht nochmal, geht der Geist hin?“, fragt sie und spuckt in den Amazonas. Der Dschungel antwortet mit Zischen im Gestrüpp, untermalt von fernem Schnattern und Krächzen. Grelle Blitze zerreißen den Himmel, die Luft ist schwer und feucht, das Wasser verdampft. Es ist die Ruhe vorm Sturm, der aufzieht. Obwohl sie so viel Speichel überhat, fühlt sich ihr Mund trocken und die Zunge rau an. Sie atmet ein und aus. ‚Später wird es regnen‘, denkt sie und spuckt nochmal in den Fluss.

Sie hat den Ayahuasca-Sud vor Stunden getrunken, aber trotzdem immer noch keine Antwort erhalten. Yahé ist dafür bekannt, denen die Augen zu öffnen, die kein Licht mehr sehen. Aber wenn man auf die Einsicht wartet, kommt sie nicht. „Also“, ermahnt sie sich selbst‚ „ruhig Blut, der Rausch will überraschend kommen.“  Vielleicht ist ihr ein Fehler bei der Zubereitung unterlaufen? Sie versucht, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, lehnt sich zurück, legt sich in das Gras, lauscht dem Zischen, dem Schnattern, dem Krächzen. Wie viel Zeit wohl vergeht? Die Müdigkeit drückt ihre Glieder in die Wiese, die sich nun immer weicher anfühlt. Auch die Luft wird weich, schmiegt sich sanft um ihre Haut. Plötzlich verändern sich Licht und Geräusche. Ein feiner Hall überdeckt den warm erleuchteten Horizont. ‚Ein Hall am Horizont? – Geht das überhaupt?‘, lauscht sie ihren eigenen Gedanken. Die Mundwinkel wollen nach oben, alle Übergänge verfließen nahtlos. Und plötzlich ist er da, schwebt im Schneidersitz, einige Zentimeter über dem Wasser. Sie ist nicht ganz sicher, aber kann wegen seiner spärlichen Bekleidung darauf schließen, dass er einem Stamm am Wasser angehört. Den Awà, oder der Yanomami. Seine Hände sind mit der Innenfläche nach oben auf seine Schenkel gelegt. Die Augen geschlossen, aber den Mund zu einem Lächeln gezogen, scheint er völlig in eine Meditation versunken.

Sie versucht zu sprechen aber es gelingt ihr nicht gleich, denn die Luft ist zu weich um sie lange genug in den Lungen zu halten. Als sie endlich Kontrolle über ihre Atmung erlangt, schreit sie fast.

„Wo geht der Geist hin?“

Er öffnet die Augen, mustert sie stumm und verändert weder Haltung noch Lächeln. Entweder scheint hinter ihm plötzlich die Sonne, oder er selbst leuchtet. Als er endlich antwortet, kann sie nicht erkennen, woher seine Stimme kommt. Aus der Luft, aus der Wiese unter ihr? Sie scheint aus jeder lebendigen Faser zu dringen: Der Boden bebt und das Gestrüpp zittert mit jeder Silbe.

„Was hat es mit dem Gehen auf sich?“, fragt er.

Sie kann nicht antworten, legt den Kopf wieder zurück, bis ihr das Sprechen leichter fällt. Irgendwann krächzt sie:

„Ich liege auf Steinen, die zu Sand werden und werde selbst zu Staub. Wenn mein Körper Staub ist, wohin geht dann mein Geist?“

Yahé lacht. Sie schnappt nach Luft, nimmt alle Kraft zusammen und spricht weiter:

„Das Wasser – es verdampft. Obwohl wir es nicht mehr ‚Wasser‘ nennen, ist es immer noch da. Es dauert seine Zeit, aber dann kehrt es zurück zum Fluss, als Wasser.“

Er lacht wieder, schüttelt leicht den Kopf und sagt:
„Wasser, Geist, Zeit… wer bestimmt schon, was Stein, Sand und Staub sind?“

„Ich muss die Dinge außerhalb von mir doch benennen, um darüber zu sprechen.“

Er lacht nicht mehr.

„Außerhalb von dir?“, wiederholt er sanft. „Es gibt dich und den Rest, meinst du? Und wo liegt die Grenze?“

„Das Außerhalb fängt an, wo das Ich endet!“ Sie sinkt zurück auf die Wiese.

„Und wenn du etwas siehst und darüber nachdenkst, ist das Ding dann noch außerhalb?“ Yahé beginnt wieder zu grinsen. „Die Grenzen deines Körpers sind nicht deine Grenzen.“

Nach einer Weile flüstert sie, fast nur zu sich selbst:
„Na gut. Wo die Grenze liegt, weiß ich nicht. Aber dass es eine gibt, weiß ich. Und dass sie aufgelöst wird, wenn ich sterbe.“

„Siehst du jetzt, was das Problem ist?“, lacht er wieder, „Du sagst ‚Ich‘, und dann stirbst du. Hättest du nicht ‚Ich‘ gesagt, dann wäre alles geblieben wie davor. Aber anstatt einfach zu sein, schlägst du dich mit Namen von Dingen herum, die gut ohne dich auskommen.“

Sie legt sich zurück auf die Wiese. Nach einer Weile sagt sie leise:
„Aber all das macht mich und meinen Geist aus: Meine Sprache, die Namen der Dinge und auch ihr Sinn.“

„Deinen Sinn schaffst du mit Worten. Deinen Geist schaffst du mit Worten. Er wird zum selben Staub, wie du.“

Entsetzt schreckt sie hoch.
„Meinst du also, wenn mein Körper zu Staub wird, vergisst er seinen Geist?“

„Dein Ich vielleicht“, stellt er nüchtern fest.

Plötzlich ist es, als ob sie ihren Körper jetzt schon verloren hätte. Jedes Glied ist taub.
„Letztendlich, vergesse ich mich also selbst?“

„Denkt der Stein wenn er zu Sand wird, denn etwa an seine frühere Form? Weiß dein Staub, dass er mal dein Körper war?“ fragt er.

„Steine und Staub denken und wissen nicht“, antwortet sie.

„Und da bist du dir sicher?“ Er grinst hämisch. „Vielleicht haderst du deshalb mit dem ewigen Fluss. Das große Ganze kannst du nicht begreifen“

„Was haben Stein und Staub deinem Geist voraus?“, fragt er und zieht die Augenbrauen hoch.
Sie öffnet den Mund aber hält dann inne. Und auf einmal kann sie es fühlen, kann fühlen, wie sich alle Grenzen auflösen.
„Sie müssen nicht ‚Ich‘ sagen, um zu existieren.“ Und es dringt aus jeder Faser aller Dinge.

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