Prosaplätzchen #2

von Ina Nádasdy

Heiligabend stand vor der Tür. Das ganze Jahr über hatte Mira sich darauf vorbereitet. Und jetzt war es da! Das erste Weihnachten ohne Papa. Sie hatte es sich schon gedacht, aber sie hatte nicht gewusst, wie schlimm es wirklich sein würde. So ganz allein in dem Haus. An Weihnachten.

Im Advent hatte sie das Haus immer so gerne dekoriert. Schneemänner hatte Mira aufgestellt, Schneeflocken an die Fenster gesprüht, in alle Ecken Weihnachtssterne gestellt und einen Ast angebracht, an dem die verschiedensten Weihnachtsfiguren herunterhingen. Und Papa hat es ein ums andere Mal geschafft, dagegen zu laufen und die Figuren zum Fallen zu bringen. Und geschimpft hatte er wie ein Rohrspatz.

Aber nun war keiner mehr da, der über ihre übertriebene Dekoration klagte. Und obwohl sie jedes Jahr diesselbe, mühselige Diskussion hatten, fehlte sie ihr jetzt umso mehr. Sie hatte zwar dekoriert, aber nur aus Gewohnheit. So richtig heimelig ist es nicht geworden. Sie hatte sogar Plätzchen gebacken. Papas Lieblingssorte: Marzipanstangen mit Aprikosenmarmeladenfüllung.

Am Mittag rief und flehte Matthias, ihr bester Freund, sie an, mit seinen zwei Mädchen noch auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, damit er noch in Ruhe Geschenke einpacken konnte. Das sowas ausgerechnt von ihm kam, brachte sie zum Lachen. Matthias, der im November schon prahlte, dass er bereits alle Geschenke gekauft und eingepackt hatte. Eigentlich war sie zu müde, um das Haus zu verlassen, aber sie konnte ihm keine Bitte abschlagen.

Als sie am Nachmittag dann nach Hause kam, war sie völlig erschöpft und wollte sich nur noch auf die Couch legen. Mira schleppte sich in ihr Wohnzimmer. Und als sie die Tür öffnete, stand da ein prächtig geschmückter Weihnachtsbaum! Unter dem Baum blitzte der alte orange Lederkoffer ihres Papas hervor, darauf ein Brief:

„Liebe Mira. Es tut mir leid, dass wir zwei nicht noch ein weiteres Mal zusammen Weihnachten feiern können. Aber denke daran, dass ich trotzdem immer bei dir bin und dich sehr liebe.
P. S.: Iss doch bitte eins von den Plätzchen für mich mit.”

Sie zog den Koffer hervor und öffnete ihn mit zitternden Händen. Darin lagen viele kleine Schätze mit Notizen daran. So wie ihr Lieblingsbuch aus Kindertagen, „Tomte Tumetott“, das Buch „Papa, erzähl doch mal“. Er hatte sich während seiner Krankheit trotz der Schmerzen hingesetzt und hatte dieses Erinnerungsbuch ausgefüllt. Auf jede Frage geantwortet, mit größter Genauigkeit.

Sein Hut, den er jeden Tag getragen hatte, lag dabei. In einer Ecke des Koffers war eine Laterne und ein Kompass mit Papas Versprechen, dass sie so immer nach Hause finden würde.

Tränen rannen über ihre Wangen und doch musste sie lachen. Richtig lachen. Wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr.

„Orange“, sagte Mira, „ist bestimmt die glücklichste aller Farben!“

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