von Karmelina Kulpa
Muscle to muscle and toe to toe
The fear has gripped me but here I go
My heart sinks as I jump up..1
Gesichter erhellt durch Mondlicht. Schweiß. Parfüm. Gesang. Ekstatische Bewegungen. Alkoholgeruch. Bässe. Laut. Geschlossene Augen. Lachen auf den Gesichtern. Blaues Licht der Musikanlage. Verutschte Kleider. Pailletten überall. Wut. Angst. Erinnerungen. Tränen wirbeln. Hüpfen. Rauf, runter, rauf, runter – zum Beat. Wie hypnotisiert. Schlagzeug. Offenes Fenster. Warm, kalt, warm, kalt. Wie in Trance. Stille. Gesang. Geschlossene Augen. Bridge. Chorus. Alte Erinnerungen. Nein, egal, weiter tanzen, immer weiter. 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1. Neues Jahr.
Die ersten Feuerwerke gingen in die Luft und weckten uns aus unserem Trancezustand. Hektisch zogen wir unsere Jacken und Schuhe an und rannten hoch aufs Dach.
Auf dem Dach war es kalt und meinen glühenden, verschwitzten Körper durchdrängte eisiger Wind. Es war seltsam, ich hatte diese Nacht wärmer in Erinnerung. Alle umarmten sich und wünschten sich gegenseitig ein gutes Jahr. Ich jedoch stand abseits und wusste nicht so recht, ob ich das gleiche tun sollte. Ich schloss die Augen. Der erste Schnee des Jahres kühlte mein Gesicht. Ruhe verbreitete sich und mit jeder Flocke, die auf dem Boden eine Decke bildete, entschwand das vorherige Jahr ins Vergessen.
Es war ein angespannter Abend voller Lügen und Missverständnisse. Meine erste Party mit alten Bekannten, mit denen ich den Kontakt verloren hatte. Damals wollte ich einen Wechsel und bereute dies inzwischen wieder. Ich saß auf dem Boden in der Küche und unterhielt mich mit den Jungs, die ich gerade erst kennengelernt, und denen ich doch schon mein ganzes Herz ausgeschüttet hatte. Die erste Stunde des Jahres war gekommen und mein Kopf, ganz umnebelt vom Erdbeerchampagner und Wörtern, die ich letztes Jahr nicht über die Lippen gebracht hatte, wirbelten herum wie bedrohliche Feuerwerke.
»Wieso ist es so wichtig für dich, diese Rolle zu bekommen?«, fragte mich einer der Jungs.
»Die Rolle an sich ist mir relativ egal, aber in einem Theaterstück bist du Teil von etwas und trotzdem darfst du sein, wer immer du willst. Du bleibst anonym.«
»Ah …die nehmen dich bestimmt!«
Danke für die Ermutigung, Unbekannter … Ich stand auf und begab mich auf die Toilette. Auf dem Weg dorthin ging ich an Klara vorbei. Sie stand angelehnt am Türrahmen und folgte von da aus dem Geschehen. Eine Hand war vor ihrem Oberkörper plaziert, in der anderen hielt sie eine halb volle Bierflasche. Sie belauschte unser Gespräch, blickte aber leer in den Raum und nahm ab und zu ein Schluck Bier zu sich.
Ich schaute in den Spiegel. Außer meinem verschmierten Lippenstift sah mein Make-Up immer noch gut aus. Aber wie mich dieses Paillettenkleid, das ich mit Aufwand in eine High-Waisted Shorts gesteckt hatte, um nicht zu overdressed zu wirken, nervte! Trotzdem knüpfte ich die Shorts wieder zu. Ich fühlte mich unwohl. You can never be overdressed or overeducated. Oscar Wilde hatte Recht! Eigentlich kannte ich die Leute sowieso nicht, es konnte mir auch egal sein, was sie dachten. Ich zog die Hose aus, schmiss sie in die Tasche und trug nochmal roten Lippenstift auf.
»Ich sehe gut aus.« Selbstbewusst beschloss ich, zurück in die Küche zu gehen und etwas sozialer zu sein. Es was immerhin Silvester. Drei Mädchen saßen in der Ecke und schnatterten ganz durcheinander über ihre Kleider für den Abiball und lästerten über dieses und jenes. Girltalk. Darauf hatte ich echt keine Lust. Die Jungs, mit denen ich vorher redete, hatten mittlerweile die Whiskeyflasche geleert, machten sich an den Vodka ran und jammerten, dass sie niemals Frauen verstehen werden. Für diese Diskussion hatte ich keine Kraft und somit gab ich meinen Plan auf, mich widerwillig zu integrieren. Ich wollte allein sein. Für neue Gedanken Platz schaffen.
Ich ging ins Tanzzimmer, um die Musik aufzudrehen, die verdächtig leise war. Das Fenster war geöffnet und Klara an die Fensterbank gelehnt. Sie rauchte eine Zigarette. Ich machte leise die Tür hinter mir zu. Ohne mich auch nur anzuschauen, wusste sie, dass ich es war und ich wusste, dass ich ihre Erlaubnis hatte, mich dazu zu gesellen. Ich ging langsam zu ihr hin und setzte mich auf die Fensterbank. Ihr von schwarzen Tränen überströmtes Gesicht sah leblos aus. Es war eines der traurigsten, die ich je gesehen hatte.
»Was ist passiert?«
Sie ließ den Zigarettenrauch durch einen schmalen Schlitz heraus, den sie mit dem Mund immer formte. Sie schaute mich nicht an.
»Er hat mich angerufen und mir alles gute fürs neue Jahr gewünscht – ich solle die Liebe meines Lebens finden. Er versteht nichts, oder er will es nicht.«
Die nächsten Tränen flossen über ihre Wangen. Sie versuchte nicht mal, sie wegzuwischen. Ich stand auf, machte ihr Lieblingslied an, unser Lied. Zu diesem Lied haben meine Freunde und ich gelacht oder vor Schmerz in unsere Kissen geschrien. Diese Melodie sorgte dafür, dass unsere Masken zerfielen und die Zeit stehen blieb. Ich legte mich auf den Boden. Stille. Die erste Stunde des Jahres war vergangen und wir hofften beide, dass dieses Jahr nicht so beschissen werden würde, wie das letzte. Wir starrten den Vollmond am Himmel an und jede von uns vergoss noch ein paar Tränen über Sachen, die wir angefangen, aber nicht zu Ende gebracht hatten.
»Von allen Leuten, die heute hier sind, hätte ich am wenigsten erwartet, dass ausgerechnet du in diesem Moment hier sein würdest.«
Das war die Wahrheit, denn eigentlich mochte ich sie gar nicht und doch verstand sie mich besser, als je einer zuvor. Diese Freundschaft basierte nicht auf guten Ratschlägen (damals hatte diese leider keine von uns parat) oder auf endlosem Vertrauen, nein. Sie basierte auf Stille. Wir spürten den Druck der Veränderungen, die uns dieses Jahr erwarten würden in dem Nacken. Doch in diesem Augenblick umhüllte uns verständnisvolle Stille – wie eine Pause nach einem, und vor einem echt heftigen Sturm.
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