Orangenmarmelade

von Victoria Grader

Das Putzen meines Kühlschranks ist mir zum Verhängnis geworden: Hinter Bergen von Gemüse, fettfreien Magermilchprodukten und dem Räuchertofu habe ich tatsächlich ein Glas Marmelade gefunden. Woher es kommt und was es dort zu suchen hat, kann ich mir schlichtweg nicht erklären. Ich wohne alleine und habe schon lange keinen Besuch mehr gehabt, also hat niemand das Glas dort hineinstellen können.
Und warum überhaupt sollte mir ein Fremder ein Glas Marmelade in den Kühlschrank schmuggeln?

Nun steht die Marmelade auf dem Küchentisch aus Kirschholz, ich halte Sicherheitsabstand, habe mich hinter die Stechpalme auf den Boden gekauert und klammere mich am Sideboard fest.
Seit mindestens zwei Jahren kaufe ich im Biomarkt ein. Ich glaube, solches Zeug haben die da gar nicht. Und außerdem würde ich so etwas niemals kaufen.
Es ist wohl wirklich eine Art … Sabotage? Jemand, der ganz genau Bescheid weiß, ein absoluter Insider in meinem Leben, muss mir das Einmachglas in den Kühlschrank geschmuggelt haben, um mich rückfällig zu machen. Was für ein Fiesling.
Ich habe es mit italienischer Orangenmarmelade zu tun. Den Geschmack von Orangenmarmelade habe ich nicht präsent, denn wie gesagt: Es ist lange her, dass ich so etwas gegessen habe. Marmelade ist nämlich nichts anderes als raffinierter Zucker in Geléeform und ich habe den weißen Zucker aus meinem Leben verbannt. Gleich nach Zigaretten und Kaffee. Es lohnt sich! Zahn-, Haut- und Gewichtsoptimierung ist meine neue Religion. Den Himmel erlebt man aber schon auf Erden. Übrigens ist Zuckerentzug für Körper und Psyche genauso heftig, wie ein Kokainentzug, da weiß ich bestens Bescheid. Ich habe gezittert, gefroren, war müde und gereizt zur selben Zeit, aber ich habe es geschafft, dank meiner eisernen Disziplin. Ich bin ein gesunder, schöner Fitness-Engel geworden und alle Bekannten bestätigen: Ich strahle nur so  vor Frische. Aber wenigstens weiß ich jetzt, dass es jemanden gibt, der mir das nicht gönnt. Jemand, der mich fallen sehen will.

Ich versuche ruhig zu bleiben und zu entscheiden, wie ich vorgehen könnte. Wegwerfen? Oder besser gleich aus dem Fenster werfen? Ich werde dem Marmeladenschmuggler auf jeden Fall nicht den Gefallen tun und sie probieren. Seine Strategie ist es ja genau, meine ungesunde Zuckersucht wieder aufleben zu lassen, nur durch ein einziges Glas Marmelade. Aber so fängt es an. Ein Häppchen, ein Schlückchen oder eine kleine Line … All das kann ins Verderben führen. Ich werde auf keinen Fall nachgeben und das Gefahrengut eliminieren. Vorsichtig werfe ich einen Blick zum Küchentisch.
Die Marmelade sieht neu und auch recht hübsch aus, also könnte man sie den Nachbarn als Weihnachtsgeschenk weitergeben. Langsam nähere ich mich dem Einmachglas. Natürlich wäre das Heuchelei. Es ist offensichtlich, dass die Nachbarn kein Weihnachtsgeschenk verdient haben: Nächtlicher Lärm und Dreck im Flur sollten nicht mit Nettigkeiten belohnt werden. Außerdem wäre es Verschwendung, weil italienische Orangenmarmelade etwas für Feinschmecker und den besonderen Gaumen ist. Plötzlich kommt mir das Bild von verklebten Kinderhänden in den Sinn, wie sie  Marmelade auf einem billigen Weizentoast verteilen. Es läuft mir kalt den Rücken herab. Ekelhaft.

Sanft streichle ich das Etikett. Das Etikett? Das war wohl ein Blackout. Das Glas befindet sich unmittelbar vor meinem Gesicht, fest umschlossen von meinen mittlerweile blutleer gewordenen Fingern. Was tue ich hier? Marmelade ist doch Zucker … Marmelade ist doch böse!
„Stell sie wieder zurück! Sofort!“, befehle ich mir selbst, aber es passiert nichts.
Dann schreie ich meine Finger an. „Lasst das Glas los!“
Doch sie krampfen weiter und beginnen zu zittern, als ob sie mir zeigen wollten, dass ich ihnen gar nichts zu sagen habe.
Ich blinzle und meine Hand bewegt sich an den Verschluss. Noch ein Blinzeln, und der Deckel ist abgeschraubt, blinzeln, schon presst sich meine Nasein die Öffnung des Glases.
Einmal tief inhaliert weiß ich sofort wieder, wie das Zeug schmeckt und die orange-süße Welle der Wonne ergreift Besitz von meinem strahlenden Selbst. Oh klebriges Gold, ich will dich…
Ich versenke meinen manikürten Zeigefinger in der Marmelade. Endlich kann ich dieses beknackte Sprichwort verstehen. Das mit dem willigen Geist, aber dem schwachen Fleisch. Ein paar Minuten später liege ich am Boden, atme schwer und das fast leere Glas rollt über den Teppich. Mein Kopf schwirrt. Es war ein widerlicher Exzess.
Die verklebten Finger sind nun meine eigenen und haben die Marmelade gierig in Gesicht und Haaren verschmiert. Sogar der Vorhang hat etwas abbekommen, weil ich ihn als Serviette benutzt habe. Wenn sich der Marmeladenschmuggler verrät, dann wird ihm Rache gewiss sein. Und die Rechnung für die Reinigung der Gardine.
Ärgerlich trete ich nach dem Telefonkästchen, als das Kärtchen aus dem Papierstapel magisch vor meine Füße schwebt und sich mein Feind offenbart: Tenuta Belle Viste, Via Capuccetto Rosso 57, Hofladen & Manufaktur. Mist.
Ich selbst hatte die Marmelade vor zwei Jahren aus dem Verona-Urlaub mitgebracht, wo ich sie gekauft habe, um die Besitzerin des Landgutes zu unterstützen.
„Verdammt!“, fluche ich.
Ich hatte wahrscheinlich gerade 315 g Zucker verputzt, was ungefähr 105 Stückchen wären, die sich nun in meine Blutbahn begeben und mich von innen verkleben.
Den ersten Pickel auf der Stirn kann ich quasi schon fühlen und ich glaube, dass mir gerade ein kleines Bäuchlein wächst. Hab ich vielleicht auch Zahnschmerzen?
Emsig fahre ich mit der Zunge die Zahnreihen ab. Auf der Suche nach Karies und Baktus. Dann fällt mein Blick auf das Glas und ich möchte es hassen. Aber irgendwie passiert nichts. Im Gegenteil: Ich will mehr. „Scheiß drauf!“, sage ich und mache mich an den letzten Rest. Jetzt ist es eh egal.

Am Ende sitze ich verklebt auf dem Boden und grinse dümmlich.
Ich bin fürchterlich zufrieden!
Das wirklich, wirklich aller schlimmste ist aber, dass ich jetzt nichts lieber tun will, als eine Zigarette zu rauchen.

 

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