von Verena Ullmann
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem die Welt aus dem Gleichgewicht geriet. Es war an einem Samstagmorgen, kurz nach meinem elften Geburtstag, als mich Vater aus dem Schlaf riss. „Guten Morgen, mein Großer. Wir fahren in den Urlaub! Überraschung!“, sagte er und ich wollte es erst nicht so recht glauben.
Wir fuhren damals selten weg und es war noch nicht einmal Sommer, geschweige denn Schulferien. Nur eine Stunde später – draußen war es dunkel und eisig kalt – saßen Olli und ich hinten im Cabrio. Vorne durchwühlte unsere Mutter aufgeregt ihre Handtasche. Auch ihr hatte Vater wohl nichts von unserem Ausflug erzählt, was mich beunruhigte. Mutter wusste sonst über alles Bescheid, zog uns an, schmierte Brötchen und brachte uns pünktlich und sicher überall dort hin, wo wir sein sollten. Vater war ja meistens im Betrieb und hatte keine Zeit, sich um irgendwelche Termine zu kümmern. Auf Urlaub oder spontane Ausflüge hatte er nie großen Wert gelegt, was mich noch misstrauischer machte. Ja, ich war mir eigentlich sicher, dass er uns anlog. „Wo fahren wir hin, Mama?“, wollte mein verschlafener Bruder wissen. „In die Berge! In ein tolles Hotel.“ Sie lächelte Vater an, wie ich es zuvor selten gesehen hatte. „Aber warum?“, hakte Olli nach. „Ja, wir machen uns ein schönes Wochenende, wir vier. Freust du dich nicht?“ „Doch …“ Sie holte einen Zettel hervor, auf dem Vater wohl die Adresse des Hotels notiert hatte und tippte diese in das Navi ein, das wir sonst nur benutzten, wenn wir Verwandte im Norden besuchten. In meinem Kopf schwirrten tausend Fragen. Warum hat man uns nicht Bescheid gesagt? Würden wir weit weg fahren? Montag ist doch Schule! Liegt noch Schnee in den Bergen? Ich kann doch gar nicht Schi fahren. Zum Wandern ist es viel zu kalt. Was würden wir überhaupt dort machen? Und wenn ich gar nicht in die Berge will, sondern bei den Großeltern bleiben? Ich hätte all diese Fragen gestellt und Antworten eingefordert, wäre ich nicht so müde und überrumpelt gewesen, wäre Vater nicht so entschlossen und Mutter nicht so glücklich gewesen, wäre mein Bruder nicht wieder eingeschlafen. Ich lehnte mich zurück und spielte mit der Wasserwaage, die immer im Fußraum herumlag. Ich ließ das Bläschen langsam nach links und rechts wandern, in der Mitte wollte es ohnehin nicht bleiben. Vater fummelte an seinem Hörgerät herum. Jahrelang hatte er sich geweigert eines zu tragen. „Wozu? Um die Kreissägen besser zu hören?“, hatte er immer gefragt. „Um uns besser zu hören!“, hatte Mutter darauf geantwortet, wieder und wieder, und ihm dieses Weihnachten schließlich eines geschenkt. Und seit kurzem trug er es sogar, wenn auch nur am Wochenende.
Der Sonnenaufgang zog zum sanften Gedudel des Radios an meinem Fenster vorbei und ließ die letzten Flecken Schnee auf den Feldern glitzern. „Mama schau mal! Da sind jede Menge Hasen!“, rief ich aus und riss damit wieder meinen Bruder aus dem Schlaf. Tatsächlich schlugen Dutzende der Tiere, die irgendetwas aufgescheucht zu haben schien, ihre Haken direkt neben der Straße. Mutter packte Vater am Arm „Herbert pass auf! Die vielen Hasen!“ „Ja, ich weiß. Hab’s schon gesehen.“ Zu ihrer Überraschung drückte mein Vater das Gaspedal durch und schaltete das Radio aus. Das Hörgerät schien bei Vater auf einmal heftige Kopfschmerzen hervorzurufen, jedenfalls dachten wir das damals. „Schon wieder diese … Störgeräusche“, sagte er. „Dann nimm das Ding halt raus!“, sagte ich, aber er weigerte sich. Stattdessen bat er Mutter weiterzufahren und bestand darauf, das Radio ausgeschaltet zu lassen. Olli und ich versuchten ruhig zu sein, was nicht so einfach für uns war. Auf die bekannten Dörfer folgten unbekannte und schließlich die Monotonie der Autobahn. Mittags waren wir bereits von Bergen umgeben, die surreal riesig auf mich wirkten. „Hoffentlich wird den Kindern nicht schlecht mit den Serpentinen“, hörte ich Mutter nach ein paar wortlosen Stunden sagen. „Was sind Serpentinen?“, fragte Olli. „Siehst du die vielen Kurven da vor uns? Wir fahren den ganzen Berg in Schlangenlinien hoch“, erklärte Vater. „Mir ist schon schlecht“, fing ich an mich zu beschweren. „Ich hab echt Hunger. Gibt es da oben was zu essen?“ „Und ich muss aufs Klo! Dringend!“, stimmte mein Bruder in die Quengelei mit ein. „Später“, sagte mein Vater nur, der vollkommen abwesend schien, an seinem Hörgerät ruckelte und wiederholt die Route auf dem Navi überprüfte, obwohl es sowieso nur eine Straße gab, der man folgen konnte. „Da oben rechts, kurz vorm Gipfel kommt eine Raststätte. Seht ihr‘s? Da können wir raus fahren“, versuchte Mutter uns zu beruhigen. „Hast du nichts eingepackt, Schatz?“ Sie sah ihren Mann entgeistert an. „Was eingepackt? Proviant? Wann hätte ich das denn bitte tun sollen? Du wolltest ja so überstürzt aufbrechen … Und da oben fahr ich jetzt raus, ich muss nämlich auch mal.“
Als sie auf den Parkplatz abbog, stürzten hinter uns fünf Rehe die Straße hinauf. „Wir essen aber nicht drinnen, wir nehmen uns was mit!“, sagte Vater in einem Ton, der keine Widerrede duldete. Er fasste wieder an sein Hörgerät und verzog sein Gesicht, obwohl er, von seinem Beruf abgehärtet, nun wirklich nicht lärmempfindlich sein konnte. „Jungs, geht aufs Klo und dann zurück ins Auto. Mama und ich holen was zu Essen.“ Er drückte mir den Autoschlüssel in die Hand und Olli und ich gehorchten. Als unsere Eltern noch eine Weile auf sich warten ließen, wohl weil die Raststätte eher ein Gasthaus war, das hauptsächlich warme Gerichte auf der Speisekarte führte, kam ich auf eine Idee. Mein Großvater hatte mir heimlich gezeigt, wie man das elektrische Cabriodach öffnete und wieder schloss. Man musste dafür nicht einmal den Motor starten, sondern nur den Schlüssel ein wenig drehen, auf die Bremse treten und einen Knopf drücken. Ich hatte große Lust, es meinem Bruder zu zeigen und nun endlich die Gelegenheit dazu. Wir setzten uns nach vorne, und sahen fasziniert zu, wie sich das Dach nach oben anhob, sich in mehreren Teilen übereinander stapelte und hinter uns in der Versenkung verschwand. Dort verweilte es kurz, ehe es surrend wieder über unsere Köpfe zog, sich aufspannte und vor uns einrastete. Wieder und wieder. „Cool! Darf ich auch mal?“ Ollis Finger drängelte sich an den Knopf und ich ließ ihn gewähren. Als es sich halb geschlossen hatte, ließ er los. „Hey, nicht!“, fauchte ich ihn an, „du musst schon draufbleiben!“ Er drückte noch ein paar Mal auf dem Knopf herum, woraufhin sich die einzelnen Teile des Daches, unentschlossen, ob es sich nun nach vorne oder nach hinten bewegen sollte, schließlich hinter unseren Köpfen schwebend stecken blieben. Wir retteten uns auf die Rückbänke, bevor unsere Eltern zurückkamen. Ich versuchte, mich mit der Wasserwaage von der drohenden Schelte abzulenken. Doch das Bläschen in der Mitte klebte am linken Ende des Stäbchens fest und ließ sich nicht mehr bewegen.
„Stefan! Was soll denn das! Das ist ein Auto und kein Spielzeug!“, schrie Vater, der schon von weitem sahen, was wir angestellt hatten. Er versuchte das Dach zu schließen, aber es rührte sich keinen Zentimeter. Er drehte den Schlüssel im Schloss, aber das Auto gab keinen Mucks von sich. „Scheiße, Sabine! Die Batterie ist leer. Jetzt können wir nicht mal mehr weiter fahren. Die Idioten haben es tatsächlich geschafft … !“ „Jetzt beruhige dich mal, Herbert! Mit offenem Dach können wir bei der Kälte sowieso nicht weiterfahren“, bremste sie ihn aus. Olli brachten sein schlechtes Gewissen und Vaters Tonfall, der sich mehr und mehr verschärfte, zum Weinen. „Das darf ja wohl nicht wahr sein!“, er schlug auf das Lenkrad. „Das kann jetzt echt nicht sein.“ Seine Hände zitterten, wegen der Kälte dachte ich, oder aus Wut. Von seiner Verzweiflung konnten wir nichts ahnen. „Ach Herbert, wir können doch den Pannendienst rufen oder in der Raststätte nachfragen, ob …“ „Weißt du wie lange das dauert?“ „Wir können doch drinnen warten und in Ruhe essen …“ „Nein! Können wir nicht! Wir müssen weiter. Jetzt!“ „Aber du siehst doch, dass das nicht geht, was soll das denn! Ich gehe jetzt jedenfalls in die Raststätte und frage nach, ob uns die Starthilfe geben können.“ „Nein! Sabine! Du bleibst hier!“ Er packte sie am Oberarm, woraufhin sie sich los riss und ausstieg. „Sabine!“, schrie er noch einmal, dann fasste er sich an seine schmerzenden Schläfen, auf denen sich Schweißtropfen gebildet hatten. „Kommt Kinder, raus aus dem Auto!“ „Aber Papa!“ Er zog Olli an seiner Winterjacke nach draußen. „Hör auf zu flennen und nimm deinen Rucksack! Stefan, du auch, komm! Wir gehen zu Fuß. Zum Gipfel ist es nicht mehr weit.“ In diesem Moment dachte ich zuerst, das wäre ein Scherz, schließlich war Vater nicht gerade sportlich. Oder dass es sich um eine Art Strafe handeln könnte, die er uns nur androhen, aber nie vollstrecken würde. Als er dann wider Erwarten los rannte, war ich mir sicher, dass er den Verstand verloren hatte. Sein Gesicht war inzwischen ganz bleich und sein Blick machte mir Angst. Er schrie noch einmal nach unserer Mutter, ohne sich umzudrehen. Er zog uns hinter sich her, Olli an seiner linken und mich an seiner rechten Hand. Und plötzlich fühlte es sich richtig an. Unsere Beine liefen wie von selbst, trotz der Steigung, durch den Schneematsch. Links, rechts, links, rechts, im Gleichschritt, als wären wir eine Einheit, von einer unsichtbaren Kraft gezogen, den Blick nach vorne gerichtet. Wir liefen um die letzte Kurve und schafften es bis kurz vor das Gipfelkreuz, als plötzlich die Vögel vom Himmel fielen. Die Schreie unserer Mutter verhallten an den Gebirgswänden, an welchen sich Sekunden später mächtige Flutwellen brachen. Wir haben sie nie wieder gesehen. Vaters Gesicht sehe ich noch genau vor mir. Ja, ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem die Welt aus dem Gleichgewicht geriet. Es war an einem Samstagmorgen, kurz nach meinem elften Geburtstag, als mich Vater aus dem Schlaf riss. „Guten Morgen, mein Großer. Wir fahren in den Urlaub! Überraschung!“, sagte er und ich wollte es erst nicht so recht glauben.
Und täglich grüßt das Prosatier
Dieses Mal hat sich die Prosathek einer besonders interessanten Herausforderung gestellt: Wir haben beschlossen, dass wir alle einmal dieselbe Geschichte schreiben wollen. Also haben wir uns ein einheitliches Setting und einen Plot überlegt. Die wichtigsten Eckdaten waren dabei, dass eine vierköpfige Familie einen Wochenendausflug in die Berge macht, das Autodach irgendwann geöffnet wird und der Vater ein Geheimnis mit sich trägt. Was dieses Geheimnis ist, durfte sich jeder selbst überlegen. Wir haben uns die Wendungen gegenseitig nicht verraten, bis alle Geschichten fertig waren. Herausgekommen sind sechs Geschichten mit den gleichen Voraussetzungen, aber unterschiedlichen – und zuweilen sehr überraschenden – Enden. Aber nicht nur das: Auch durch unsere unterschiedlichen Schreibweisen, Perspektiven und Stimmen ist jede Story vollkommen individuell geworden.
Von Montag bis Samstag wird jeden Tag eine neue „Schneeschmelze-Geschichte“ von einem von uns auf dem Blog erscheinen. Viel Spaß beim Lesen!