Schneeschmelze – Ohne euch

von Annika Kemmeter

Nadja sah nervös auf die Tankanzeige. Sie zwirbelte an ihren Ohrringen.
„Lass das! Bitte.“
„Was?“, fragte Nadja.
„Ich hab nix gemacht!“, maulte Ivan.
Eine verdächtige Antwort, fand Nadja: „Ivan? Was hast du gemacht?“, fragte sie nach hinten.
„Ooooargh!“ Ein Jaulen erfüllte das beengte Auto. „Er hat mich angemalt! Mit Filzstift!“, stieß Roman aus. Er bemerkte es erst jetzt, so vertieft war er in das Video gewesen. „Du bist so gemein!“, schrie er seinen großen Bruder an. Er sah sich um, fand nur das Handy in seiner Hand und rammte es Ivan ins Bein.
„Aua!“
„Bitte“, wiederholte Ernst seine Bitte. „Nadja, kannst du das bitte lassen?“
„Was denn? Hört auf euch zu streiten, Kinder!“
„Er kloppt mit dem Handy auf mich ein!“
„Das Ohrringzwirbeln! Es macht mich nervös!“
„Ach ja? Mich macht die Tanknadel nervös!“
„Wie oft denn noch: Ich kenne das Auto. Wir haben noch gut zwanzig Kilometer, bis er absäuft.“
„Ist dir das schon mal passiert?“, fragte Ivan. Die Vorstellung fand er cool, auf der Autobahn am Rand stehen und den Wind der vorbeizischenden Autos im Gesicht fühlen. Sein Bein tat nicht wirklich weh.
„Nein“, antwortete sein Vater.
„Und wie kannst du dir dann so sicher sein?“, fragte Nadja.
„Ich habe das Handbuch gelesen. Hör endlich auf mit den Ohrringen!“
Nadja hörte auf. Roman spuckte auf seine filzstiftbeschmierte Hand, Ivan sah aus dem Fenster und Ernst rechnete aus, wie weit die nächste Tankstelle entfernt war. Es war knapp. Aber es würde schon klappen. Es musste klappen.

Ernst hielt den Tankrüssel fest in der Hand und beobachtete die kletternden Ziffern. Er mochte den Geruch von Benzin. Nadja stand schon an der Kasse an. Optimiertes Tanken nannten sie das.
„Weißt du, dass Dad total plemplem ist?“, fragte Ivan und trat gegen den Fahrersitz, um seine Beine etwas zu bewegen.
„Warum?“, fragte Roman.
„Der hat den Zweitschlüssel vom Auto im Handschuhfach.“
„Na und?“
„Na und? Und dann hat einer, der ins Auto einbricht, den Autoschlüssel.“ Sein kleiner Bruder war genauso plemplem wie Dad.
„Ja? Und?“
„Und dann kann er das Handschuhfach aufmachen und einfach mit dem Auto davonfahren, Hirni!“
„Wenn einer ein Auto knackt, kann er bestimmt auch irgendwie an diesen Drähten rumfuddeln und mit dem Auto wegfahren. Das macht gar keinen Unterschied.“
„Ja, Hirni“, begann Ivan. Er suchte nach einer Antwort, die seinen kleinen Bruder mit seinem schlauen Getue in die Schranken weisen würde. Dann fiel ihm was ein: „Aber dann kann er auch das Cabrio-Dach runter machen. Das geht nicht ohne Autoschlüssel.“
Der Kleine nickte beeindruckt. Das mit dem Dach hatte er nicht gewusst. Dann dämmerte ihm was: „Heißt das, wir könnten den Autoschlüssel nehmen und das Dach runter machen?“ Romans Augen leuchteten.
„Geniale Idee, Roman! Wenn Mama und Papa es uns nicht erlauben, aber zu blöd sind, den Autoschlüssel zu verstecken, sind sie selbst schuld, oder? Außerdem ist saugeiles Wetter.“ Das stimmte. Die endlose Schneematschzeit war endlich vorbei, die Sonne schien und gab einen Ausblick auf den fernen Sommer.
Schon hatte sich Ivan abgeschnallt und war auf den Vordersitz gekrochen. Er steckte den Schlüssel ins Loch. Jetzt bloß nicht zu weit drehen. Er versicherte sich, dass die Handbremse angezogen war. Er war ja nicht blöd. Vorsichtig drehte er bis zur zwei und zog am Dachöffnungshebel. Ein Sirren schwirrte von allen Seiten zu seinen Ohren: Fensterheber rechts und links, die die Fenster hinabließen, die Spiegel, das Dach alles summte und setzt sich in Bewegung. Ivan und warf einen triumphierenden Blick zu seinem Bruder. Der hielt die Daumen hoch.
„Verdammt! Was machst du da! IVAN! IVAAAAN! Hör auf mit dem Scheiß!“
Ivan schrak zusammen. Es war ein Reflex. Er zog den Schlüssel ab und warf ihn ins offene Handschuhfach. Eine gleitende Bewegung. Ein komisch krachendes Geräusch begleitete sie.
„Scheiße! Scheiße, Ivan! Ivan, verdammte Scheiße! Argh, oh Mann!“ Ernst rammte den Tankrüssel auf den Haken und rannte um das Auto zur Fahrertür. „Ivan! Mann! Hast du den Schlüssel abgezogen? Beim Öffnungsvorgang? Bist du bescheuert?!“
„Wenn du mich nicht so erschreckt hättest…“ Weiter kam Ivan nicht. Sein Vater schob ihn grob zur Seite und fummelte selbst mit seinem Schlüssel am Zündloch herum. So ein Scheiß! Das war das absolute No-Go. Groß und fett stand es in der Bedienungsanleitung. Schalten Sie den Motor auf keinen Fall aus, während die Verdecköffnung im Gange ist. Aber was dann geschah, das hatte nirgendwo gestanden.
„Ivan, ich bring dich um, ich schwöre es dir, wenn das Verdeck sich jetzt nicht mehr bewegen lässt, bringe ich dich um.“ Ivan erlebte seinen Dad selten so wütend. Er drohte ihm durch zusammengebissene Zähne. Ivan beobachtete, wie sein Dad am Hebel zog, ohne dass sich etwas tat.
„Es war Romans Idee.“ Es war tatsächlich Romans Idee gewesen, oder? So genau wusste er es nicht mehr.
„Schluss mit den Ausreden! Verschwinde von hier vorne, ich will dich nicht sehen!“, schrie Ernst jetzt. Ivan merkte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Er zwängte sich zurück auf seinen Sitz.
„Was macht ihr denn?“, fragte Nadja durch die schmale Öffnung im Dach. „Was ist mit dem Dach los?“
Sie öffnete die Tür und setzte sich. Sie hatte vier Snickers in den Händen und reichte zwei nach hinten.
„Frag nicht!“, zischte Ernst.
„Okay.“ Sie sah nach hinten zu ihren Jungs. Typisch Ernst, sie rollte ihre Augen. Die Jungs aber bekamen kaum ein Grinsen über ihre Lippen. „Also? Fahren wir los?“
„Sehr witzig.“
„Ich darf ja nicht fragen, was hier los ist… Also… von mir aus können wir weiter zu deinem geheimnisvollen Ort.“
„Von dir aus! Dich fragt keiner!“
Nadja packte ihr Snickers aus und biss hinein. Die Nüsse fehlten in all den anderen Riegeln. Deshalb holte sie immer Snickers, wenn sie einen Ausflug machten: Sie waren süß und machten satt. Dann würden die Jungs erst in höchstens fünf Minuten wieder Hunger kriegen.
„Du hast doch alles unter Kontrolle, oder Schatz?“, fragte sie kauend.
„Klar. Alles bestens.“ Er schloss seine Tür mit der zur Hälfte heruntergelassenen Scheibe, knackte seinen Außenspiegel wieder in Position, schnallte sich an und fuhr los. Als er sich auf die Autobahn einfädelte, fragte Nadja, ob er die Fenster schließen könnte.
„Leider nicht, Liebes.“
„Was soll das heißen?“
„Frag die Jungs.“
„Jungs?“
„Ivan hat den Autoschlüssel aus dem Handschuhfach genommen! Und das Autodach runtergeklappt! Dabei hat Papa ihn so erschreckt, dass er den Schlüssel wieder rausgezogen hat! Und jetzt ist alles kaputt!“, schrie Roman.
Nadja stöhnte laut auf, was durch das Brausen der Fahrt bei halboffenem Verdeck und Fenstern keiner hörte. „Das ist nicht dein Ernst!“ Als keiner antwortete, sah sie ihren Mann an. „Ernst!“ Keine Reaktion. „Ernst! Kannst du bitte anhalten?“
„Leider nicht, wir sind auf der Autobahn.“
Seine dumme Sturheit brachte sie zur Weißglut! Manchmal hasste sie ihren Mann. Sie schluckte ja viel, aber nicht alles.
„Ernst! Wir holen uns den Tod! Halt! Sofort! An!“
Ernst stieg in die Eisen. Nicht, ohne sich vorher zu versichern, dass der MAN-Laster hinter ihnen gut 500 Meter entfernt war. Trotzdem. Mit dieser Wucht hatte er nicht gerechnet. Die letzte wirkliche Vollbremsung hatte er vor zwanzig Jahren bei der Fahrprüfung gemacht. Etwas mehr als zwanzig Jahren. Scheiße! So hatte er sich das nicht ausgemalt. Sein Versöhnungswochenende. Seine Liebeserklärung an die Familie. Eine Absichtserklärung. So etwas, wie eine zweite Heirat beinahe. Oder ein Antrag an seine Familie. Er hatte sich entschieden. Für sie entschieden. Das wollte er ihnen endlich sagen. Sie hatten es verdient. Stattdessen maulte er seine Frau die ganze Zeit an, und seinem Sohn hatte er mit Mord gedroht. Er sah Nadja an. Sie konnte nichts dafür, dass alles offen war.

„Hammer!“, staunte Roman.
Der Laster schoss an ihnen vorbei und drückte das Auto für einen kurzen Moment nach rechts. „Krass“, sagte Ivan. Es kam ihm vor wie eine Naturgewalt. Wie groß musste ein Laster sein, um sie ganz an die Leitplanke zu drücken? Er fragte seinen Dad.
„Spinnst du?“, fragte Nadja.
„Nein“, antwortete Ernst. „Und jetzt?“
Nadja riss sich zusammen.
„Jetzt holen wir alle Jacken und Schals und Mützen und Handschuhe aus dem Kofferraum“, sagte sie. „Zum Glück fahren wir in die Alpen und nicht ans Meer.“
Ein weiterer LKW drückte Unmengen Luft ins Auto.
„Kannst du gehen, Liebes?“, fragte Ernst. Sie sah ihn mit ungläubigen Augen an. „Auf deiner Seite sind keine Autos…“
Wortlos holte sie die Sachen aus dem Kofferraum.

Roman trug eine Daunenjacke, Strickschal und –Mütze, Fellfäustlinge und über seinen Beinen lag ein warmer Pulli. Wenn Papa nicht bald losfuhr, würde er zu schmelzen beginnen. Roman wusste, dass Schnee und Metall schmelzen konnten. Wachs auch. Er fragte sich, ob er es auch konnte und bei welcher Temperatur. Bei seiner Haut konnte er es sich vorstellen, bei seinen Haaren eher nicht. Als Papa losfuhr, genoss Roman den Wind, aber das komische Geräusch unter seinem Sitz machte ihm Sorgen. Er versuchte Ivans Blick aufzufangen. Doch der war nach draußen gerichtet.
„Mama?“, fragte er. „MAMA!“, schrie er.
„Was denn?“
„HÖRST DU DAS GERÄUSCH?!“
Sie lauschte. Wumm wumm wumm wumm wumm…
Es wurde immer schneller. Es hatte nichts mit dem Dach zu tun. Roman sah, dass Mama Papa am Arm berührte.
„Ernst, wir haben ein Problem.“
„Ach!“
„Ne, mit dem Reifen. Ich glaube, du musst noch mal anhalten – aber keine Vollbremsung!“ Roman erahnte nur, was seine Eltern sprachen. Es beruhigte ihn, dass sein Vater langsamer wurde. Und dann begann ein weiterer Streit, den er jetzt sehr gut verstand, weil sie nicht mehr fuhren, sondern am Rand der Autobahn angehalten hatten.

„Ich weiß, was eine Umwucht ist!“, kläffte Nadja.
„Warum fragst du dann so…“, Ernst biss sich auf die Zunge. Blöd sollte ihm jetzt nicht rausrutschen.
„Ich habe nicht gefragt, was eine Umwucht ist. Ich habe gefragt, ob man damit fahren kann.“
Ernst zuckte mit den  Schultern. „Ja. Schon. Nur nicht so schnell.“
Nadja raufte sich die Haare. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das gut ist. Da geht bestimmt was an der Achse kaputt oder so.“
„Nicht, wenn wir nicht so schnell und nicht so weit fahren. Es ist auch nicht mehr weit. Noch so 60 Kilometer, etwa.“
Nadja hatte keine Ahnung, was das genau bedeutete, 60 Kilometer mit Umwucht fahren. Aber sie hatte den Verdacht, dass Ernst das auch nicht genau wusste. Plötzlich ließ Ernst seinen Kopf auf das Lenkrad fallen. „Och Mann! Och Mann! Mann! Scheiße!“
Er sah sie an. Sein Gesicht war rot. „So sollte das gar nicht sein.“
Nadja wurde kühl. „Allerdings.“ Sie googelte Umwucht. Alle schwiegen. Wie schön.

„Hier steht, Umwucht gibt’s bei ner Vollbremsung nur, wenn das ABS nicht funktioniert. Ernst, warum funktioniert das ABS nicht? Ich weiß, dass mein Auto ABS hat.“
„Klar hat das Auto ABS. Oh. Sieh mal. Es leuchtet.“ Er zeigte auf die Anzeige. Nadja platzte der Kragen. Sie stieg aus dem Auto, kletterte über die Leitplanke und marschierte ins Feld. Sie benutzte das Auto so gut wie nie. Wirklich. Fast nie. Ernst, ja. Ernst machte seine Ausflüge, wie er sie nannte. Er nahm immer ihr Auto. Und sie fuhr Bus. Mit den Kindern. Seit Jahren schon. Sein Weg war immer weiter als ihrer. Und sie hatte ja zugestimmt, dass er die Ausflüge machen konnte. Warum eigentlich? Warum ließ sie sich so vorführen? Warum gab sie ihm auch noch ihr Auto? Sollte er sich doch ein eigenes holen. Jetzt war es kaputt. Bestimmt Verschleiß. Warum geht schon so ein ABS kaputt? Da wird irgendwas mit den Drähten verrutscht sein. Oder durchgebrannt. Wie bei Ernst, als er eine Vollbremsung gemacht hat, nur weil sie gesagt hatte, er solle bitte anhalten. Oder als er mit halboffenem Verdeck losgefahren ist. Sie spürte seine Hand auf ihrer Schulter und schüttelte sie ab.
„Lass mich!“ Er ließ sie. Er ging davon und kam wieder zurück, mit seinem Handy in der Hand. „Ich rufe den ADAC an.“
„Nie! Nie hast du den ADAC gebraucht! Nie!“ Sie hämmerte auf seine Brust ein. Er ging rückwärts, schützte sich mit seinen Armen. „Oder fahrt ihr mit ihrem Auto? Fährst du mit meinem Auto nur zu ihr und dann steigt ihr um? Hatte sie schon mal eine Umwucht oder einen ABS-Ausfall oder einen ADAC-Fall, als du bei ihr warst?“
„Nadja, das hat doch nichts damit…“
„Und wie es damit zu tun hat!“ Er war überrascht, wie wütend sie war. Er kannte sie schmollend und beißend und verletzt. Aber nicht wütend. Sie schrie, sie hatte ein verzerrtes Gesicht. Ihre Hände sahen aus wie Krallen.
Und dann hagelte es Vorwürfe. Es wäre ihr Auto und er hätte es benutzt, bis es nicht mehr konnte. Er hätte es pflegen müssen, es wäre seine Aufgabe gewesen, sich darum zu kümmern. „Du Egoistenschwein! Du Arschloch!“ Sie hatte Recht. Er hatte sich wirklich nicht um das Auto gekümmert. Er war davon ausgegangen, dass es einfach immer funktionieren würde. Und er mit allem durchkäme. Aber nicht heute. Heute wollte er aufräumen. Und deswegen zog er nicht den Kopf ein. Er ging auf Nadja zu, auch wenn er sich vor ihr fürchtete, und nahm sie in den Arm. Sie stieß ihn weg. Er hörte, die Autotür. Die Jungs stiegen aus. Ordentlich auf der rechten Seite, aber trotzdem! Und wenn sie jetzt ihren Streit mithörten? Er wollte ihnen zurufen, sie sollten sich zurück ins Auto setzen, doch Nadja riss ihm das Handy aus der Hand und schrie:
„Gib mir ihre Nummer! Gib mir ihre verdammte Nummer! Ich rufe sie an. Ich will wissen, ob ihr mein Auto benutzt habt. Ob ihr darin gevögelt habt, ihr Arschgeigen!“ Kurz dachte er, er müsste auflachen bei dem Wort Arschgeige. Sie war es nicht gewohnt zu schimpfen. Sie hielt ihm sein Handy vors Gesicht. „Wie geht deine Pin?“
„3754.“
Sie tippte.
„Nadja, du wirst sie darin nicht finden.“
„Ach! Hast du ein Zweithandy, von dem ich nichts weiß?“
„Nadja, ich… hör mal zu! Ich habe euch heute… ich wollte euch ausführen um euch zu sagen, dass es vorbei ist mit den Ausflügen.“
Verunsichert sah er zu den Jungs. Sie standen unschlüssig zwischen dem Auto und der Leitplanke herum. Die Autobahn war so laut, dass sie nichts von ihrem Streit mitbekommen dürften.
„Na so ein Zufall. Ich will deine Tusse anrufen, da ist es plötzlich zufällig heute vorbei! Sag mir ihren Namen!“ Ernst sah sich hilfesuchend um. Wieder traf er auf die Blicke seiner Söhne. Sie starrten ihn fragend an. Alles in ihm fiel zusammen.
„Was ist? Hat sie wirklich Schluss gemacht? Das will ich von ihr hören!“
„Nadja, es ist… es klingt blöd, aber es ist wirklich, wirklich anders als du denkst!“ Zu seiner Überraschung lachte Nadja auf. Sie lachte ihn aus. Die Jungs kletterten über die Planke. „Bitte… die Kinder!“
„Was, bitte die Kinder? Sind sie nicht Teil des Ganzen? Sollen sie es doch erfahren. Ivan, Roman, kommt mal her, Papa will euch was sagen. Wisst ihr, warum das Auto kaputt ist? Papa hat seine andere Frau darin herumkutschiert, bis das ABS versagt hat. Aber nicht bei ihr, ne, bei uns. Bei dem ersten Ausflug seit… seit ewig! Ach ja. Das wisst ihr ja nicht: Papa hat eine Dame, die er genau so lieb hat wie uns. Und während wir am Wochenende die Wohnung putzen und die Wäsche machen und die Oma im Altenheim besuchen, da macht er sich einen schönen Tag mit der Dame und geht in die schönsten Hotels und besten Restaurants. Sauna, Wellness, fein Essen. Und danach wird gepoppt. Wir wissen es nicht genau, meine Schätze, vielleicht hat Papa auch noch ein paar andere liebe Kinder, mit denen er seine Wochenenden lieber verbringt. Tja. Und jetzt ist das Auto hin, weil Papa so oft damit hin- und hergefahren ist. Weil er sich nicht entscheiden konnte. Nadja, Ivan und Roman auf der einen Seite, seine Freundin auf der anderen… Schwierig ist das! Schwierig!“
Mama flossen die Tränen über die Wangen. Hatte sie gepoppt gesagt? Roman wusste, was das hieß. Papa stand da, wie ein geschmolzener Schneemann. Roman warf einen Blick zu Ivan, doch der starrte nur Papa an mit roten Flecken im Gesicht. Er würde also gleich weinen. Oder brüllen. Es wurde ganz schön heiß unter der Wollmütze. Roman zog sie ab. Auch seine Fäustlinge, die das Geschmiere von Ivan verdeckt hatten. Papa fummelte in seiner Jacken-Innentasche herum. Hoffentlich kein Foto von seinen anderen Kindern. Andere Kinder? Romans Bauch zog sich zusammen. Doch Papa holte ein Blatt heraus, faltete es auseinander und las vor:

„Geliebte Familie, liebe Nadja, lieber Ivan, lieber Roman,
in den letzten Jahren war ich viel unterwegs. Viel zu viel. Ich habe kostbare Zeit mit euch verpasst, obwohl ihr das wichtigste und beste seid, was ich in meinem Leben habe. Das mit dem Redenschreiben ist nicht so mein Ding. Über diesen Zeilen brüte ich nun schon das ganze Wochenende. Ich habe euch heute hierher gebracht, an den Ort, wo Mama und ich essen waren, als wir noch jung waren. Wir waren verliebt und haben den Kellner veräppelt, wir waren ausgelassen und fröhlich. Ich liebe dich, liebe Nadja, noch genauso wie an diesem Tag. Und habe dich nie weniger und nie anders geliebt. Du bist für mich die Frau meiner Träume, die ich über alles bewundere und verehre. Du bist die Einzige für mich und wirst es immer sein. Und ihr Kinder seid das schönste Geschenk, das man sich vorstellen kann. Ich möchte euch heute sagen, und dann ist die Rede auch schon zu ende, dass ich von heute an immer bei euch sein werde, auch an den Wochenenden. Und dass ich mich auf die gemeinsame Zeit mit euch freue. Denn ich liebe euch sehr.“

Papa sah von seinem Zettel auf. Roman fand das sehr schön, was er vorgelesen hatte. Mama müsste ihm jetzt um den Hals fallen, wie es in den Filmen immer war. Aber sie stand nur da. Sie sagte auch nichts. „Du… du hast eine Geliebte?“, fragte da Ivan mit bebender Stimme. Er versaute mal wieder alles.
„Hatte“, verbesserte Roman.
Ivan lachte komisch. Dann rannte er auf Papa zu, so wie wir Mama vorhin im Auto gesehen hatten, und schlug mit seiner rechten Faust in den Bauch. „Du zerstörst alles! Du hast meine Familie zerstört!“ Roman konnte es kaum aushalten, Papa so hilflos zu sehen. „Wie kannst du eine Geliebte haben!? Du bist das Letzte!“
Mama hielt immer noch Papas Handy in der Hand. „Sag mir ihre Nummer!“
Papa machte ein verzweifeltes Gesicht.
„Sag mir sofort ihre Nummer, oder ich nehme die Kinder und ziehe zu meiner Mutter.“
Papa nahm Mama das Handy aus der Hand. Er starrte darauf. Dann gab er es ihr zurück.
Dann sagte er etwas so leise, dass Roman es nicht hörte.
„Was?“, fragte Roman.
„Es gibt keine Geliebte.“ Papa sackte in sich zusammen, er saß vor Ivan und vor Mama im nassen Gras.
„Was sagst du da?“, fragte Mama. Roman kam näher, um Papa besser zu hören.
„Es gibt keine Geliebte. Keine Frau. Kein Sex. Keine Affäre.“ Roman fragte sich kurz, ob Papa meinte, dass er einen Mann hatte, aber man hatte, wenn man schwul war, auch Sex, das wusste Roman.
„Sprich weiter“, sagte Mama und Ivan stemmte die Arme auf seine Knie, den Blick fest auf Papa gerichtet.
„Ich bin einfach… ich war einfach allein. Jedes Mal. Wenn ich weg war, war ich allein weg. Ich brauchte einfach Zeit für mich. Ich kann das nicht, den ganzen Stress auf der Arbeit und dann noch zu Hause alles und die Kinder und du und alle zerren an mir – ich weiß! An dir auch! Und ich weiß, ich habe dich im Stich gelassen. Aber ich brauchte meine Ruhe. Und dann hast du irgendwann diese Frau erfunden… es gab sie nicht, aber du hast sie akzeptiert und… und dann war das irgendwie so.“
Mama sah verwirrt aus. Sie fiel jetzt auch auf die Erde und eine Träne rann ihre Wange hinab. Roman beugte sich noch näher zu Papa und fragte ihn:
„Du hast Mama erzählt, du bist in eine andere Frau verliebt? Weil du keine Lust hattest, mit uns samstags das Haus zu putzen?“
Ernst sah ihn an. Und dann nickte er. Und dann hörte man für lange Zeit nur das Rauschen der Autobahn.

Und täglich grüßt das Prosatier

Dieses Mal hat sich die Prosathek einer besonders interessanten Herausforderung gestellt: Wir haben beschlossen, dass wir alle einmal dieselbe Geschichte schreiben wollen. Also haben wir uns ein einheitliches Setting und einen Plot überlegt. Die wichtigsten Eckdaten waren dabei, dass eine vierköpfige Familie einen Wochenendausflug in die Berge macht, das Autodach irgendwann geöffnet wird und der Vater ein Geheimnis mit sich trägt. Was dieses Geheimnis ist, durfte sich jeder selbst überlegen. Wir haben uns den Ausgang gegenseitig nicht verraten, bis alle Geschichten fertig waren. Herausgekommen sind sechs Geschichten mit den gleichen Voraussetzungen, aber unterschiedlichen – und zuweilen sehr überraschenden – Enden. Aber nicht nur das: Auch durch unsere unterschiedlichen Schreibweisen, Perspektiven und Stimmen ist jede Story vollkommen individuell geworden.

Von Montag bis Samstag wird jeden Tag eine neue „Schneeschmelze-Geschichte“ von einem von uns auf dem Blog erscheinen. Viel Spaß beim Lesen!

 

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