Schneeschmelze – Willkommen in der Herrengasse

 

von Martin Trappen

„Sind wir bald da“? Wenn Gerd die Frage noch einmal hörte, würde er seinen Kopf durch die Windschutzscheibe schmettern. Er atmete tief durch und versuchte, seine Gedanken zu beruhigen. Es war ewig her, dass so lange mit den Kindern auf engem Raum zusammen war; und sie saßen nun schon seit vier Stunden im Auto. Gerd hatte in der Firma immer viel zu tun, und die vergangenen Wochen waren besonders stressig gewesen. Er sah auf den Rücksitz: Dort saßen seine Jungs, Marco und Till, neun und elf Jahre alt. Mozart saß zwischen ihnen: mit offenem Maul und einem zufriedenen, treu-dämlichen Gesichtsausdruck. Der Berner Sennenhund sollte eigentlich im Kofferraum mitreisen, aber in all der Hektik hatte Gerd beim Einräumen den treuen Vierbeiner nicht einkalkuliert. Widerwillig hatte er zugestimmt, Wolfgang Amadeus auf dem Rücksitz mitfahren zu lassen. Die Strecke war nicht besonders kurvig und Gerd fuhr immer vorsichtig. Wenn es an diesem Wochenende zu einer Katastrophe kommt, dann nicht wegen einem Rüden, dachte sich Gerd; und war sich kurz danach nicht mehr so sicher.

„Es ist nicht mehr weit“, versicherte Gerd sich selbst ebenso wie seinen Passagieren, „allmählich ist die Straße nicht mehr so steil. Das heißt, wir müssen bald da sein.“ Auch wenn sie seine Nerven strapazierten: Seine Söhne waren Gerds ganzer Stolz; umso mehr schmerzte es ihn, dass er so wenig Zeit mit ihnen verbringen konnte. Nicht nur die Vater-Sohn-Beziehung war am Bröckeln, auch zwischen Gerd und seiner Frau sah es nicht rosig aus. Dieser Ausflug in die Berge war das letzte Aufbäumen des Familienmannes, der nach wie vor in ihm steckte.

„Wir wären längst da, wenn du auf mich gehört hättest“, sagte Franziska. Der Ton in der Stimme von Gerds Frau klang wir immer: irgendwo zwischen Feldwebel und enttäuschter Mutter. So sprach sie jedes Mal, wenn Gerd ihrer Meinung nach etwas falsch machte. Er bekam ihn ständig zu hören.

„Keine Sorge, Hasi“, antwortete Gerd nicht ohne Ironie, „Karl weiß immer den kürzesten Weg.“

„Papa hat Hasi gesagt“, meinte Marco breit grinsend.

„Da könnte er doch auch Karnickel sagen“, behauptete Till.

„Karnickel und Hasi sind nicht dasselbe!“

„Sind sie wohl!“

„Sind sie gar nicht!“

„Sind sie gar wohl!“

„Gar wohl gibt es nicht!“

„Gibt es gar doch!“

„Ruhe jetzt“, sagte Gerd, zu leise, um über das Gezeter der Jungen gehört zu werden.

„Selber!“

„Selberselber!“

„Selberselberselber!“

„Du verlässt dich zu sehr auf andere, Gerd. Das macht dich schwach. Du musst unabhängiger sein.“

„Andere stärken einen, Franzi, sie schwächen einen nicht. Die Firma könnte ich auch nicht alleine am Laufen halten.“

„Ich will gar nicht darüber nachdenken, wie viel mehr Geld wir hätten, wenn du in deiner Arbeit selbständiger wärst.“

„Das kann ich dir sagen, Franzi: viel weniger, weil ich dann nämlich schon lange keine Firma mehr hätte.“

„Du hörst einfach nicht auf mich, Gerd.“

„Selber, selber, sagen nur die dummen Kälber!“

„Se-hehe-hehe-hehehehelber!“

„Ruhe“, sagte Gerd bestimmter, aber ohne Erfolg. „Entschuldige, Franzi, bin ich ein Hund oder ein Mann?“

„Das kann ich beim besten Willen nicht sagen, mein Lieber, ich erkenne nämlich keinen Unterschied.“ Gerd biss sich auf die Lippen, so fest, dass er Blut schmeckte. Er durfte ihr keine Steilvorlagen liefern.

„Selber, selber, gibt es nicht, darum bist du‘n Arschgesicht.“

„Süüüüü-häääää-häääää-hüüü-hööööö-äääääälbaaaaaar!“

„Ruhe, hab ich gesagt“, wiederholte Gerd.

„Siehst du, wie die Kinder sind?“ Franziska ließ nicht locker. „Du untergräbst meine Erziehung. Alle Disziplin, die ich den beiden einbläue, machst du wieder kaputt.“

„Einer muss das ja tun. Du erlaubst den beiden ja nicht mal Eiscreme.“

„Natürlich nicht, die ist schlecht für die Zähne und macht dick.“

„Sie sind kleine Kinder, Franzi, keine Supermodels.“

„Gott bewahre, soweit kommt’s noch. Die beiden sollen schön lernen und gute Noten bekommen.“

„Was sollen Sie Ärzte werden, damit du vor deinen Freundinnen angeben kannst?“

„Du sagst das geradeso als wäre es was Schlechtes. Aber eigentlich hatte ich was anderes vor.“

„Ach, und was?“ Gerd riss allmählich der Geduldsfaden.

„Mach dir darum keine Sorgen, mein lieber. Kammer du dich nur darum, dass unser Konto gut gefüllt ist. Die Kinder werden schließlich immer teurer, je älter sie werden.“

„Ach dafür bin ich also gut, ja?“

„Freu dich doch, bist du auch für etwas gut. Das war ja lange alles andere als sicher.“ Gerd umklammerte das Lenkrad so fest, dass die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten.

„Sähähä-hähä-hähä-hähähähähähähähähähälboooooaaaar!“

„Sel, sel-Sel, Sel-sel-sel-sel-sel-sel, Sel, sel-Sel, Sel-sel-sel-sel-sel-sel…“

„Ruhe! Seid ruhig jetzt, und zwar alle!“, rief Gerd so laut er kannte, doch weder Frau noch Kind reagierten. Er wusste nur eine Möglichkeit: Kälteschock. Gerd öffnete per Knopfdruck das Schiebedach und atmete die kalte Bergluft ein. Er beruhigte seinen Atem und seinen Puls. Dumpf hörte er seine Frau meckern, doch langsam blendete er sie aus. In seinem Kopf sagte er das Mantra auf, das er sich zurechtgelegt hatte. Ich bin die Ruhe selbst. Ich bin die Ruhe selbst. Er heftete seinen Blick nach vorne auf die Straße, die allmählich kurviger und steiler wurde. Er passierte grade die Schilder, die vor Serpentinen warnten, als ihm sein Mantra entglitt. Ich bin die Ruhe selbst. Mein Leben ist schön. Meine Familie ist glücklich. Ich bin die Ruhe selbst. Wenn man es sich nur oft genug sagt… Ich bin die Ruhe selbst. Wer’s glaubt wird selig. Ich bin ein Vollidiot. Wenn man es sich nur oft genug sagt…Ich bin ein Riesenvollidiot. Wenn man es sich nur oft genug sagt…Irgendwann glaubt man es!

Ein lautes Bellen riss Gerd aus seiner Trance. Sein Nacken war eisig, seine Arme von Gänsehaut überzogen und der Fahrtwind pfiff ihm um die Ohren. „Willst du, dass wir hier alle erfrieren, Gerd?“, fragte Franziska. Er drückte den Knopf fürs Schiebedach, aber nichts passierte. Er drückte zweimal, viermal, achtmal. Nichts.

„Das Dach geht nicht zu“, antwortete Gerd, während er im Staccato auf den ‚Schiebedach-Zu-Knopf‘ hämmerte.

„Du bist zu unfähig für die einfachsten Aufgaben!“

„Du bist mir eine Hilfe, Franzi! Till, da ist noch ein Knopf direkt am Schiebedach. Kommst du ran?“

„Da muss ich mich abschnallen, Papa.“

„Dann tu das, Junge.“

„Aber, Mama, ihr habt doch gesagt, das dürfen wir nicht.“

„Ich erlaube es dir. Marco, halt deinen Bruder an den Beinen fest.“

„Hast du grade meinen Anweisungen widersprochen?“ Seine Frau klang fassungslos. Gerd ignorierte sie.

„Schaffst du es, Till?“

„Bin…fast…da…“ Im Rückspiegel konnte Gerd sehen, wie sein älterer Sohn die Fingerspitzen nach dem Bedienfeld ausstreckte. „Welcher Knopf ist es denn?“

„Der mit dem Rechteck, dem roten!“

„Da passiert nichts!“

„Drückst du auch richtig?“, fragte Marco.

„Wie kann man denn einen Knopf falsch drücken?“, gab Till zurück.

„Wenn nichts passiert, drückst du falsch.“

„Der Knopf ist kaputt.“

„Ausreden, Ausreden.“

„Siehst du“, wandte sich Gerd an seine Frau, „das machst du aus unseren Kindern.

„Das machst du aus unseren Kindern“, antwortete Franzi, „ohne dich hätte ich sie längst zum völligen Gehorsam erzogen.“

Gerds Antwort wurde abgewürgt; der Motor fing plötzlich zu stottern an. „Oh, bitte nicht.“ Das Stottern wurde lauter. „Oh, Gott, bitte, bitte nicht!“ Der ganze Wagen wackelte und außer zu Stottern fing der Motor an zu glucksen wie ein Säufer im Vollrausch. „Himmelherrgott noch mal, bleibt mir aber auch gar nichts erspart!“, brüllte Gerd, kurz bevor alle Geräusche verstummtem und der Wagen stillschweigend stehen blieb.

*****************

Es sah nicht gut aus. Es sah überhaupt nicht gut aus. Etwas stimmte mit der Treibstoffzufuhr nicht, der Diesel hatte sich im ganzen Motorenraum verteilt. Daran, den V8 wieder zu starten, war gar nicht zu denken, und so konnte auch keine Elektronik im Auto benutzt werden — Heizung, Navi, Radio blieben aus. Seinen Jungs hatte Gerd ihre dicken Mäntel, Schals, Handschuhe und Mützen aus dem Kofferraum rausgesucht, seine Frau hatte wie üblich nichts richtig Warmes eingepackt; sie zitterte mit vor der Brust verschränkten Armen in der eisigen Bergluft.

Gerd versuchte, in Ruhe alle seine Optionen durchzugehen: Allzu weit konnten sie von der Ferienhütte nicht entfernt sein, doch zu Fuß, schätzte Gerd, wären sie trotzdem gute zwei Stunden unterwegs. Ob die Kinder den Fußmarsch schaffen würden, bezweifelte er, zumal sie Auto nicht mitten auf der Straße stehen lassen konnten, mitsamt allen Koffern und Taschen. Auf den Pannendienst konnten sie an einem Sonntag in dieser abgelegenen Gegend lange warten. Und Gerd hatte keine Ahnung, wie man einen Verbrennungsmotor reparierte; er war Kaufmann, kein Mechaniker — es blieb nur ein Ausweg: Er musste seine letzte Reißleine ziehen. Er musste Karl anrufen.

„Also, ich erwarte eine Lösung, Gerd. Du hast uns das eingebrockt“, gab Franziska Order.

„Ich regle das“, entgegnete Gerd.

„Präzise Angaben, nicht so wischi-waschi.“

„Ich telefoniere.“ Gerd legte alle Bestimmtheit, die er aufbringen konnte, in seine Stimme. Er musste in seinen Kontakten nicht lange suchen; Karl war als Favorit gespeichert. Es klingelte. „Hasselt.“ — „Karl, Hasi, ein Glück das du drangehst. Hör mal, unser Auto ist stehen geblieben, da geht gar nix mehr.“ — „Was ist passiert?“ — „Motor abgesoffen.“ — „Herrschaftszeiten, wenn man dich mit Technik alleine lässt. Also gut, ich bin knapp hinter euch, in zehn Minuten bin ich da. Bussi.“ — „Bussi.“ Gerd starrte in das fassungslose Gesicht seiner Frau. Sekündlich wechselten Farbe und Ausdruck, von weiß zu rot, von blau zu gelb, von fassungslos zu stinksauer, von Vom-Glauben-Abgefallen zu Fuchsteufelswild.

„Du mieser Drecksack!“, zischte Franziska.

„Mama, hat Drecksack gesagt“, lachte Till und Marco fiel mit ein.

„Franzi, die Kinder.“

„Du elendes Stück Scheiße!“

„Till, Marco, wehe, wenn ich euch jemals solche Worte gebrauchen höre!“ Gerd wandte sich wieder seiner Frau zu. „Schatz, halte dich zurück.“

„Komm mir nicht mit Schatz, du Scheißkerl!“

„Till, Marco, geht mit Mozart spielen.“

„Aber…“, beschwerten sich die beiden im Chor.

„Sofort!“ sie hörten auf ihn. „Also, Schatz…“

„Nenn mich nicht Schatz!“

„Also gut: Franzi. Gibst du mir eine Chance, alles zu erklären, oder fährst du mich wieder wie eine Dampfwalze platt?“

„Du hast eine Minute.“

„Das reicht doch hinten und vorne nicht, Franzi.“

„50 Sekunden.“

„Du bist unmöglich, Franzi. Willst du mir das Leben zur Hölle machen oder bin ich nur ausersehen in die Luziferstraße gezogen?

„Nicht in dem Ton, mein Lieber.“

„Doch, genau in dem Ton, meine Liebe. Den gibst du nämlich nicht länger an.“

„Das werden wir ja sehen. Du treibst es mit Männern?“ Als Gerd schwieg, sagte sie mit mehr Nachdruck: „Beantworte meine Frage.“

„Etwas über elf Jahre.“ So sehr er es auch wollte, Gerd konnte sich ihrem Befehlston nicht widersetzen.

„Eine solche Unverschämtheit ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht untergekommen.“

„Ich bin nicht stolz drauf, Franzi.“

„Das wäre ja auch noch schöner! Wenn Ehebruch etwas wäre, worauf man stolz sein kann!“

„Aber die Ehe ist nunmal gebrochen, Franzi. Da bleibt nichts außer Scheidung.“

„Soweit kommt’s noch! Nein, mein Lieber, so einfach läufst du mir nicht davon! Ich hab harte Arbeit in diese Familie gesteckt und die lass ich mir nicht kaputt machen! Du wirst weiterhin machen, was ich sage, so wie das Till, Marco und Mozart auch tun.“

„So ist das also? Du bist der Feldwebel, ja? DU gibst den Ton an? Die Kinder und die Hochzeit hast du mir aufgezwungen!“ Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte sich Gerd, dass die Kinder immer noch mit Mozart spielten — Till nahm gerade einen Stock vom Boden und warf ihn, der Berner Sennenhund lief hinterher — „Dann war mein Seitenwechsel vielleicht nichts anderes als ein heimlicher Versuch, dein Regime zu stürzen.“

„Und wie lange läuft diese Revolution schon?“

„Nicht ganz elf Jahre. Till kam kurz danach auf die Welt. Und dann war es zu spät. Ich hab einfach keinen Ausweg gewusst, Franzi.“

„Du bist ein jämmerliches Weichei, Gerd.“

„Bitte, Franzi, mach doch einmal halblang.“

„Nimm es wie ein Mann, Gerd. Das Leben ist hart, du musst härter sein.“

„Aber Eheleute sollten sich das Leben leichter machen, nicht schwerer.“

„Das hättest du wohl gern? Nein, mein Lieber, ich habe die Verantwortung, diese Familie Heil durchs Kreuzfeuer zu manövrieren, und das werde ich auch tun.“

„Sag mir bitte nicht, dass du mit den beiden umgehst, wenn ich nicht dabei bin?“ Ihr eiskalter Blick sprach Bände. „Himmel, Arsch und Zwirn, Franzi, das kann doch nicht wahr sein! Kinder erzieht man mit Liebe und Fürsorge, nicht mit Angst und Strenge!“

„Ich warne dich Gerd.“

„Du hast hier gar nichts mehr zu warnen!“

„Unterschätz mich bloß nicht, mein Lieber!“

„Ich hab es vierzehn Jahre lang ausgehalten, da bin ich für alles bereit, Schatzilein!“

„Nenn mich nicht Schatzilein!“ Endlich hatte Gerd es geschafft, sie aus der Fassung zu bringen. Und gerade rechtzeitig: Hinter den Streitenden hielt ein Auto. Sie hatten den alten Ford Focus nicht anfahren hören. Aus dem Kleinwagen stieg ein großer, breit gebauter Mann mit dichtem Schnurrbart. Karl Hasselt war in einen dicken Wintermantel gehüllt, einen Schal um seinen Hals, Handschuhe über den Fingern, aber sein Kopf war kahl wie immer. „Sie haben den Pannendienst gerufen, Herrschaften“, verkündete Karl in seinem schwersten Wiener Dialekt.

„Steh stramm, Karl. Und salutiere vor der Generälin“, warnte Gert.

„Jawohl, Leutnant“, bellte Karl und mimte tatsächlich einen Salut.

Gerd ging zu seinem Geliebten und wollte ihm zur Begrüßung einen Kuss auf den Mund drücken. Mit seinen behaarten Pranken hielt Karl ihn liebevoll, aber bestimmt, davon ab.

„Langsam, Strizzi. Vor den Augen deiner Frau?“

„Sie weiß es doch.“

„Trotzdem wollen wir die Pietät nicht vergessen.“ Widerwillig gab Gerd nach. „Servus, Franzi. Falls es einen Unterschied macht: mir war bei der Scharade nie wohl, aber Gottseidank ist es vorbei.“

„Geh mir aus den Augen, Karl. Sonst kann ich für nichts garantieren!“, krächzte Franziska.

„Auweh“, sagte Karl, „Ich schau mal nach dem Motor“, und wandte sich dem Geländewagen zu.

„Franzi, halt ihn gefälligst…“ Gerds Anweisung, Karl nicht in den Streit hineinzuziehen, ging unter, als Franziska an ihm vorbei stürmte und ihn aus dem Weg schubste. Sie stakste gute 500 Meter von ihnen weg und starrte dann — die Hände in die Hüften gestemmt — in das Tal unter ihnen. Jetzt mit ihr zu reden war sinnlos, wusste Gerd. Er sah rüber zu ihrem Wagen: Dort machte sich Karl am Motor des Tiguan zu schaffen. Er wollte zu ihm gehen, überlegte es sich dann aber anders. Er würde dem Motorenflüsterer nur im Weg stehen. Nachdem die kalte Luft ihm ein paar Minuten lang beruhigt hatte, ließ der Wind nach und er konnte ein leises Schluchzen hören. Gerd konnte nicht anders; er ging zu seiner Frau und wollte sie wärmen. Sie wandte sein Gesicht ab und stieß ihn mit beiden Händen von sich weg.

„Franzi, es tut mit Leid. Ich weiß, ich kann das nie wieder gutmachen, aber besser unsere Ehe geht jetzt zu Bruch als später. Je länger wir warten, desto größer wird der Scherbenhaufen. Und was auch passiert, du bleibst Mutter und ich bleibe Vater — wir haben schließlich zwei großartige Jungs.“ Über seine Schulter sah Gerd, wie Till, Marco und Mozart um Karl herumscharwenzelten. Der große Mann schloss gerade die Motorhaube und nahm das Handtuch von seiner Schulter, um sich die ölverschmierten Hände abzuwischen. Dann nahm er den Stock, warf ihn; Mozart, Till und Marco liefen hinterher. Eine ähnliche Szene hatte Gerd schon oft im Traum gesehen und sie so real vor sich zu haben, ließ ihn einige Momente ins Schwärmen geraten.

„Was fällt dir ein!“ Jäh wurde Gerd aus seiner heilen Welt gerissen. „Du willst mich endlich mal trösten und schaust dann verliebt zu diesem Mistkerl rüber?! Das wirst du mir büßen, Gerd! Wenn Marie mit dir fertig ist, wirst du die Kinder nicht vor ihrem Schulabschluss sehen. Und wenns gut läuft nicht mal dann, weil du ohne Geld in der Gosse landest!“

„Entschuldige, Franzi, aber hast du vergessen, dass deine Anwältin unsere Anwältin ist?“ Jetzt war es Gerd, dessen Geduld überstrapaziert war; es gab offensichtlich nur eine Art, mit Franziska zu reden. „Du weißt schon, meine Kusine? Die dich von Anfang an nicht hat leiden können und mir sogar Geld angeboten hat, damit ich dich nicht heirate?“ Franziskas Gesichtsausdruck verriet, dass es ihr gerade wieder einfiel. „Ich warne dich: Ich bleibe fair, solange du keine Anwälte ins Spiel bringst. Tu das, und ich kann für nichts mehr garantieren — und wenn es dir ums liebe Geld geht, sparst du dir Mühe am besten gleich.“

 „Das hast du nicht gewagt.“ Franziska begriff schnell.

„Und ob, meine Feldherrin. Die 330.000 Euro habe ich investiert. Ist doch jeden Tag in der Zeitung. Die berüchtigte Herrengasse. Der Schwulenclub, der geschlossen werden sollte? Alle Konservativen im Stadtsenat haben unter der Hand dafür gesorgt, dass sich nur ja kein Investor dafür findet. Aber mit mir hatten die reaktionären Arschlöcher nicht gerechnet. Nächste Woche öffnen wir.“

Franziska war mit dem Reden fertig. Mit aufgeblähten Nüstern stampfte sie an Gerd vorbei und schnappte Marco und Till am Schlafittchen.  „Kommt, Jungs, Papa hat dicke Männer mit Glatze lieber als uns.“

„Hä, was meinst du, Mama?“, wollte Till wissen.

„Das ist doch nur Onkel Karl“, erinnerte sie Marco.

„Karl ist nicht euer Onkel, verstanden? Karl ist ab jetzt gar nichts mehr für euch.“

„Aber  wir spielen doch so gern mit ihm!“

„Ja, Mama, warum dürfen wir nicht mehr?“ Mozart unterstrich die Fragen der Jungen mit ungeduldigem Bellen, während er um das Trio herum sprang.

„Kein Aber  und keine Widerrede, verstanden? Ihr macht, was ich sage und Schluss.“

„Ihr müsst euch das nicht gefallen lassen, Jungs.“ Gerd hatte das lange genug mit angesehen. „Wenn ihr von Mama die Schnauze voll habt, braucht ihr nur bei mir einzusteigen.“ Er musste es nicht zweimal sagen. Hüpfend und Hurra rufend sprangen Till, Marco und Mozart auf Karls Ford zu und stiegen ein. Der Blick auf Franziskas Gesicht war für Gerd unbezahlbar. „Willkommen in der Herrengasse, Franzi“, verkündete er in seinem Triumph, nach dem er sich seit Jahren gesehnt hatte.

Als sie losfuhren, sah Gerd, wie Franziska im Rückspiegel immer kleiner wurde. Er wusste, dass sie nicht wirklich in Gefahr steckte. Karl hatte den Motor so manipuliert, dass er für etwa eine halbe Stunde nicht anspringen würde. Sobald sie danach den Schlüssel umdrehte, würde sie nachkommen können. Gerd kannte die Masche gut. Sie hatten damit schon ein paar Mal den Kollegen einen bösen Streich gespielt. Er legte eine beruhigende Hand auf Karls Knie. „Bei dir alles gut?“, frage Gerd.

„Jetzt ja“, antwortete Karl.

„Kommt Mama später?“, fragte Marco.

„Das ist ihre Entscheidung. Sie ist willkommen, solange sie uns nicht das Wochenende versaut. Aber keine Sorge, ihr müsst nicht länger auf sie hören.“ Gerd sah zufrieden in Karls Augen. Er hatte es endlich geschafft. Er hatte seine Ketten gesprengt, Franzis Schreckensherrschaft beendet. Nie wieder würde er sein Glück von sich treiben lassen. Er würde es von nun an stets mit beiden Händen ergreifen.

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