Die Frau in der U6

von Alexander Wachter

Noch immer roch ich Sophie. Ich spürte ihre Fingerspitzen auf meiner Brust, hörte ihren Atem in meinem Ohr. Während ich auf die U-Bahn wartete, erregte mich der Gedanke an die Bewegungen ihres nackten Körpers unter mir. Sie hatte gemeint, dass sie mich besser findet als jeden Mann, mit dem sie bis jetzt zusammen war.

»Du meinst im Bett?«, hatte ich grinsend entgegnet.

Sie hatte den Kopf geschüttelt. »Nein, allgemein. Mit dir fühle ich mich wohl. Glücklich.« Ihre Worte waren Balsam für mein Ego und Gift für mein Herz.

Sie hatte mir heute eine Schublade für meine Sachen angeboten. »Damit du nicht immer alles mitbringen musst.«

Natürlich hatte ich abgelehnt.

Die U-Bahn rollte in die Station. Ich setzte mich in einen Vierer, dachte über Sophies Lachen nach. Die Männer standen bei ihr Schlange – dennoch war ich ihre erste Wahl. Sie nahm sich immer Zeit, wenn ich anrief, lachte über all meine Scherze. Und sie wollte mich. Immer.

Ein Schluchzen von der Frau gegenüber zog mich aus meinen Gedanken. Sie trug ein weiß-blaues Dirndl, war zierlich und jung. Ich sah, dass sie weinte. Gerötete Adern durchzogen ihre Netzhaut, ihr Gesicht: verknitterter als ihre Bluse. Sie versteckte es vor den auffällig gleichgültigen Blicken der Mitreisenden, wandte es dem U-Bahnfenster zu. Ihre Wimperntusche rann, tropfte in schwarzen Tränen auf die weiße Bluse, arbeitete sich wurmartig zur Oberkante der Rüschen vor.

Ich erkannte lose Spangen zwischen zerdrückten Blütenblättern. Sie blieb mit einem eingerissen Fingernagel in einer Strähne hängen, riss ihn unsanft frei. Ihre Strümpfe hatten Laufmaschen. Glänzender Schlamm überdeckte das ursprüngliche Blau der Schuhe.

Die Frau hatte sich Mühe mit ihrem Aussehen gegeben. Bestimmt hatte sie sich vielen Gedanken über ihr Outfit gemacht, sich stundenlang geschminkt und gestylt –  nur um allein in der U-Bahn zu sitzen, tränenüberströmt.

Hatte ihr Freund Schluss gemacht? Hatte sie ihn beim Fremdgehen erwischt? Oder hatte sie sich mit ihrer besten Freundin gestritten? Wurde ihr vielleicht etwas angetan?

Ihr Anblick rührte mich, aber ich sprach sie nicht an. Was hätte ich auch sagen sollen? Ich rechnete damit, dass sie bei der Münchner Freiheit aussteigen würde. Noch zwei Haltestellen. Zu wenig Zeit, um ein aufbauendes Gespräch zu führen.

Sie stieg nicht bei der Münchner Freiheit aus – an den zwei darauffolgenden Haltestellen auch nicht.

An der Universität betrat ein älterer Mann die U-Bahn. Er setzte sich neben mich. Seine Kleidung roch nach Nikotin. Der Mann bemerkte die weinende Frau, kramte in seiner Jackentasche. »Entschuldigen Sie«, sagte er an sie gerichtet.

Sie reagierte nicht sofort.

»Es tut mir leid«, fuhr der alte Mann fort. »Möchten Sie ein Taschentuch?« Er lächelte sie an und streckte ihr eines entgegen.

Die Frau räusperte sich. Ihre Stimme angestrengt, sagte sie: »Vielen Dank.« Sie nahm das Taschentuch an.

»Nichts zu danken. Ich habe leider keinen heißen Tee dabei, sonst hätte ich Ihnen den auch noch angeboten.«

Sie lächelte. »Trotzdem danke.«

Meine Hand schloss sich um das Tempo in meiner Hosentasche. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Die nächste Station war meine. Ich sprang aus dem Waggon, wollte die Treppen hoch und raus an die frische Luft.

Ich setzte mich auf eine Parkbank, spürte das kalte Holz gegen meine Haut und atmete tief. Ich dachte an den hilfsbereiten Mann. Stinkend, vorlaut, aber ohne Hintergedanken, ohne Zögern. Seine Geste: eine Kleinigkeit. Doch ich hatte erkannt, wie viel es der Frau bedeutete.

Kümmerte ich mich nicht um andere Menschen? Ich hatte gesehen, dass sie ein Taschentuch brauchte, wäre aber nie auf die Idee gekommen, ihr eines anzubieten. Es musste erst ein alter Mann kommen, der mir zeigte, wie es ging. Ich war mir nicht sicher, ob ich beim nächsten Mal anders handeln würde.

War ich so egoistisch?

Ich beantwortete mir die Frage selbst, dachte an Sophie. Was machte ich mit ihr? So konnte das Ganze nicht weitergehen. So wollte ich nie werden.

Ich  nahm das Smartphone aus der Tasche und tippte: Sophie! Wir müssen reden. Ich kann so nicht mehr weitermachen!

Ich verharrte mit dem Finger auf der Senden-Taste. Diese Nachricht würde Sophie verletzen. Ich hörte ihre Stimme: »Mit dir fühle ich mich wohl. Glücklich.« Ich ekelte mich vor mir selbst – doch es war das Richtige. Danach schaltete ich mein Smartphone aus.

Beim Betreten der Wohnung schlug mir der Geruch von Bratensoße und geschmorrten Fleisch entgegen. Es gab Schweinsbraten zum Abendessen.

»Da bist du ja endlich«, sagte Nicole, als ich die Küche betrat. »Ich dachte, du wolltest eher kommen und mir mit dem Essen helfen.« Sie stand am Herd und sah mich vorwurfsvoll an.

»Ja tut mir leid. Ging nicht schneller.«

Ich wusste nicht, ob sie mich über das Dröhnen der Abzugshaube gehört hatte. Sie fuhr unbeirrt fort: »Mein Vater hat wegen der Geburtstagsfeier angerufen. Er habe die Einladungen schon vor einer Woche zur Post gebracht.«

»Hmm. Gut.«

Nicole bemerkte meinen Gesichtsausdruck. Sie schob den Topf auf die benachbarte Platte, kam zu mir, gab mir einen Kuss. »War viel los heute?«

Ich nickte. »Ja, sie haben uns die Bude eingerannt.« Sie ging zurück zum Herd. »Das Essen ist gleich fertig.«

»Nicki?«

»Ja?«, rief sie über ihre Schulter.

Ich stand auf, umschlang sie von hinten mit meinen Armen. »Ich liebe dich«, sagte ich und hielt sie ganz fest.

Nicole lachte. »Woher der Drang nach plötzlichen Liebesbekundungen?«

Ich dachte daran, ihr alles zu sagen. »Einfach so.«

Nicole drehte sich zu mir um, gab mir noch einen Kuss. »Süß. Ich liebe dich auch.« Sie grinste. »Und jetzt deck bitte den Tisch. Wir können gleich essen.«

 

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