Teil 1: Höre!
von Martin Trappen
„Hattest du jemals einen Traum, der dir komplett real erschien? Was wäre, wenn du unfähig wärst, von diesem Traum wieder aufzuwachen? Wie würdest du den Unterschied zwischen Traumwelt und realer Welt erkennen?“
Tony wusste nicht, wo er diesen Satz gehört hatte. Er wusste auch nicht, warum ihm die Frage in letzter Zeit ständig im Kopf herumschwirrte. Hatte es damit zu tun, dass sich sein Kopf ansonsten leer anfühlte? Als ob er den Platz darin nicht länger benötigte. Als hätte sein Verstand das Feld geräumt.
Tony sah sich im Abteil um. Ein paar Sitzreihen entfernt saß eine Frau im roten Pullover. Auch sie schaute auf ihr Handy. Genauso wie der glatzköpfige Mann neben ihr, der kleine Junge gegenüber und die Studentin ein Stück weiter hinten. Und der Schaffner. Auch er guckte aufs Handy. „Guten Tag, die Fahrscheine bitte.“ Tony zeigte seine Monatskarte. „In Ordnung, vielen Dank. Eine schöne Weiterfahrt wünsch ich noch.“ – „Danke.“ – „Guten Tag, die Fahrscheine, bitte.“ Der Kontrolleur schlenderte die Sitzreihen ab und kontrollierte die anderen Fahrgäste.
Tonys Pupillen weiteten sich, als sich das Gesicht des Schaffners verzerrte. Als hätte ein sadistischer Maler Terpentin auf die Leinwand der Realität getropft. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, doch Tony hätte schwören können, dass es real war. Er blinzelte mehrmals; schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, das mentale Bild zu löschen – vergeblich. Bei jedem Blinzeln schien es ihm, als wären die Gesichter aller Menschen im Zug verwaschen. Wie eine Kerze im Wind flackerte diese Erscheinung immer wieder auf – und war ebenso schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Tony spürte, wie sich sein Puls beschleunigte und sich Schweiß auf seiner Stirn ansammelte.
Tonys Augen brannten. Er wischte sich durchs Gesicht. Kurz darauf war alles wie gewohnt. Tony nahm tief Luft. Sein Herzschlag ging spürbar langsamer. War seine überaktive Fantasie mit ihm durchgegangen? Tagträume waren ihm vertraut, doch dieser war zu real gewesen. Er wusste, was es bedeutete, ausschließlich in digitalen Welten zu leben. Aber das hatte sich genau umgekehrt angefühlt – zu real statt zu virtuell.
Der Zug hielt am nächsten Bahnhof. Ein paar Leute stiegen ein; unter ihnen war ein Mann im Anzug, der in jede beliebige Vorstandssitzung einer von Europas Top-Managementfirmen gepasst hätte. Der Anzug war maßgeschneidert, der Haaransatz grau, aber ebenso makellos gepflegt wie alles an ihm. Er telefonierte. Tony fielen die silbern-glänzenden Manschettenknöpfe des Fremden auf. „In Ordnung, sagen Sie Meier, er soll mich sofort anrufen, sobald er aus dem Urlaub zurückkommt. Und grüßen Sie mir unsere Leute im Marketing.“ Tony schnappte nur die letzten Fetzen des Telefonats auf. „Diese ständige Erreichbarkeit bringt mich noch ins Grab.“ Der Mann im Anzug saß in der Sitzreihe auf der anderen Seite des Ganges, und schien den Satz nicht direkt an Tony gerichtet zu haben. „Früher hatte ich nur zwei Telefone – eins Zuhause, eins am Arbeitsplatz. Aber mit diesem Gerät habe ich das Gefühl, tausende Telefone mit mir herumzutragen. Es klingelt ständig und ich muss rangehen. Seltsam, oder? An ein klingelndes Telefon muss man rangehen. Soweit haben die uns schon.“
„Das ist doch nichts Neues“, warf Tony ein. Er konnte einem Small-Talk nicht entgehen.
„Nein“, lachte der Fremde, „aber das macht es nicht besser, oder?“, fragte der Mann, während er den Kragen seines Anzugs richtete. „Nur weil man schon lange beschissen wird, ist der Beschiss auf einmal gerechtfertigt?“ Tony war baff. Vielleicht würde das doch kein so leeres Gespräch werden.
„Da haben die großen Firmen mittlerweile Übung drin. Und wir alle machen mit. Sehen Sie den angebissenen Apfel da auf Ihrem Handy?“
Der Fremde musste auflachen. „Stimmt. Ich stecke da natürlich auch mittendrin. Allerdings stelle ich mich nicht tagelang vor dem Laden in die Schlange, so wie Ihr jungen Leute. Wenn man vorbeigeht, könnte man meinen, da gibts was umsonst.“
„Ich stehe für sowas nicht an. Aber es muss ja jeder selbst wissen, was er mit seiner Zeit anfängt“, meinte Tony.
„Manchmal glaube ich, da entscheidet längst jemand anderes für uns“, sagte der Fremde resignierend.
„Bullshit.“ Tony hatte jetzt die volle Aufmerksamkeit. „Was auch immer die Firmen anbieten und was auch immer sie für aggressive Werbe-Kampagnen betreiben, letzten Endes bleibt es jedem Einzelnen überlassen, was er tut und was der denkt.“
„Wenn es nur so wäre“, die Stimme des Fremden troff förmlich vor Erschöpfung. „Wenn es doch nur so wäre, Herr Lombardo.“
Tony zog die Brauen zusammen. „Woher wissen Sie, wie ich heiße?“
„Das spielt für den Moment keine Rolle.“ Der Mann im Anzug blickte an die Decke. Er hatte entspannt die Beine übereinandergeschlagen. „Man hat Sie mir als verschlossen und nicht sonderlich gesprächig beschrieben, Herr Lombardo.“
„Wer, verdammt noch mal, hat mich da beschrieben?“ Tony spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Er wahr kein besonders sozialer Mensch, und er hatte wenige Freunde.
„Sie sind verwirrt, das ist zu erwarten. Keine Sorge, bald werden Sie verstehen.“ Der Fremde sprach so vage, dass es Tony zum Kochen brachte.
„Sagen Sie mir, woher Sie mich kennen, sofort!“
„Es brennt ein Feuer in Ihnen; sehr gut, das werden Sie brauchen.“ Der Fremde richtete erneut seinen Kragen, nahm seine Aktentasche und stand auf.
„Was soll das? Wo wollen Sie hin? Der verdammt Zug hat nicht mal angehalten!“ Tony schrie jetzt, doch es war ihm egal.
„Ich muss hier aussteigen.“ Der Fremde ging auf die nächste Tür zu. „Auf bald, Herr Lombardo.“ Der Zug fuhr in einen Tunnel. Als der Wagon wieder ins Helle fuhr, war der Mann verschwunden. Tony stotterte fassungslos: „Was zum Teufel ist hier gerade passiert?“
…
Was hat es mit den verschwommenen Gesichtern auf sich? Wer ist der Unbekannte im Anzug? Und wieso kannte er Tonys Namen? Antworten darauf und mehr gibt es im zweiten Teil von Leer.