Leer, Teil 3: Glaube!

Teil 3: Glaube!

von Martin Trappen

Tony saß lächelnd auf dem Rücksitz des Streifenwagens. Er war völlig wahnsinnig, das war ihm nun klar. Wieso hätte er sonst auf einen Mann am Telefon gehört, der ihn zu einem Waschsalon schickte? Er machte sich keine Sorgen darüber, wo ihn die Polizisten hinbringen würden. Was konnten sie einem Wahnsinnigen schon antun?

Als der Polizeiwagen um die nächste Ecke fuhr, ragte vor ihm ein gigantisches Gebäude auf. Es bestand nicht aus Stahlbeton und Glas, sondern aus blendend weißem Licht. Tränen liefen Tony aus den Augen; kurz darauf schloss er seine Lider gegen das grelle Leuchten. Es half nichts: Das Licht brannte sich trotzdem in seine Netzhaut. Er spürte, dass das Auto diesem Lichthaus immer näherkam, da das Brennen immer stärker wurde. Die Polizisten zerrten ihn aus dem Auto; ihm fehlte die Kraft, sich zu wehren. Tony presste die Augen nach wie vor zusammen; doch er hörte gedämpfte Rufe; Schritte, die auf ihn zukamen. Zwei neue Paar Hände zogen jetzt an seinen Schultern und schleiften ihn in das Leuchthaus. Er glaubte, dass tausende Nadeln seinen Verstand  durchstachen. Er wollte schreien, doch kein Laut kam aus seinem Hals.

Tony verkrampfte, hielt es nicht länger aus, da verschwand der Schmerz. Das Licht hatte sich eben noch durch die Augenlider gebrannt; jetzt war es stockfinster. Seine Muskeln entspannten sich, da die Nadeln aus seinem Kopf verschwunden waren. Er fühlte sich unendlich befreit. Er lag flach auf dem Rücken – auf eiskaltem Boden. Langsam öffnete er die Augen.

Der Wechsel von hell und heiß auf kalt und dunkel betäubte ihn, doch er dankte dem Himmel dafür. Nach ein paar Minuten – waren es Minuten? – wünschte er sich ein wenig Licht. Sie hatten ihn wohl ins Irrenhaus gebracht. Wo sonst sollte man einen Irren auch hinbringen? Der Schmerz musste zu seinen Wahnvorstellungen gehören. Er hoffte, bald mit einem Arzt sprechen zu können. Die würden ihm bestimmt helfen.

Seine Fantasie war ihm oft schon zu viel gewesen. So gesehen war er dankbar, diese nun los zu sein. Er hatte sich den ganzen Morgen zusammenfantasiert. Verschwommene Gesichter? Dumpfe Stimmen? Eine verwandelte Realität? Ein Glück, dass er davon nun befreit war.

Ein Lichtschlitz durchschnitt die Dunkelheit in seiner Zelle wie ein Messer. Instinktiv schloss Tony die Augen und drehte sich von der Lichtquelle weg. Das Brennen kehrte nicht zurück, doch er war trotzdem kurz geblendet. Tony hörte nur zwei paar Füße; kurz darauf zwei Stimmen.

„Sehen wir uns den Patienten an“, sagte die eine Stimme.

„Muss ja einer von der komplett wahnsinnigen Sorte sein“, meinte die andere.“

„Kannst du laut sagen. Der soll bei der Arbeit völlig ausgetickt sein. Hat den Chef angebrüllt und einen Mitarbeiter verletzt.“

„Und Andersen hat ihn dann hierher schaffen lassen?“

„Das einzig Richtige, wenn du mich fragst.“

Tony spähte durch seine Augenlider. Er sah zwei Männer in weißen Kitteln, ihre Gesichter waren verschwommen; ihre Stimmen klangen nicht dumpf, schienen aber widerzuhallen. Sie waren angezogen wie Pfleger in einem Krankenhaus. Oder in einer Psychiatrie. Er hatte also richtig gelegen.

Die Pfleger rollten ein Krankenbett in das Zimmer. Tony machte sich nicht die Mühe, Widerstand leisten. Sie hievten ihn auf das Bett; befestigten ihm Hände und Beine mit Ledergurten. Er konnte jetzt mehr sehen: Die Gesichter der beiden blieben verwaschen, doch der Raum nahm mehr Gestalt an. Sein Eindruck bestätigte sich, als er die Spritzen, Thermometer und Zangen sah, die auf einem Wagen lagen.

Er drehte den Kopf mühsam zur Seite. Die Pfleger maßen seinen Blutdruck, entnahmen ihm Blut und stellten seine Körpertemperatur fest. Da ihre Gesichter identisch verwaschen waren, blieb nur ihre Körperform zur Unterscheidung: Der Linke war kleiner und dürrer, der andere ein Stück größer und massiger. Ob der Unterschied Fett oder Muskeln waren, konnte Tony nicht sagen.

„Wie geht es unserem Patienten?“ Eine dritte Stimme hallte durch den Raum, langsam, selbstbewusst. Als die schemenhafte Figur näherkam, konnte Tony erkennen, wen er vor sich hatte. Er erschrak, als er in ein klar konturiertes Gesicht blickte. Die Haare auf seinem Nacken richteten sich auf.

„Dr. Andersen. Er scheint in guter körperlicher Verfassung zu sein“, sagte der große Pfleger.

„Hervorragend, Werner. Wie Sie wissen, brauche ich sie in absoluter Bestform“, sagt der Chefarzt.

„Jawohl, Herr Doktor.“

Andersen starrte Tony mit eisblauen Augen an. „Ich hoffe doch, man hat Sie gut behandelt, Herr Lombardo? Das Wohl meiner Patienten liegt mir sehr am Herzen, müssen Sie wissen.“

„Als ich ankam, war mir nicht wohl, aber es geht schon viel besser“, hauchte Tony.

„Das freut mich zu hören.“ Der Doktor sah die Fesseln. „Machen Sie die ab, meine Herren, er ist Patient, kein Gefangener.“ Die beiden gehorchten. Tony stand erleichtert auf und setzte sich auf die Kante des Betts. Andersen sprach weiter. „Ruhen Sie sich aus, Herr Lombardo. Sie sind aus gutem Grund hier, und ich bin sicher, mit der Zeit werden wir Ihnen helfen können.“

Tony wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er stand in einem Aufzug, der nach oben fuhr. Die beiden Pfleger, Werner und Hannes, passten auf ihn auf. Es ging ihm besser, das wusste er auf jeden Fall. Das helle Licht verfolgte ihn immer noch. Es verursachte keine Schmerzen, machte ihm aber mental zu schaffen. Doch Dr. Andersen versicherte ihm, dass auch dieses Problem aus der Welt zu schaffen sei.

Er hatte den Gedanken an das Licht gerade in eine Ecke seines geschundenen Verstands verbannt, da schien es ihm erneut auf den Rücken; Tony fiel auf den Boden und kauerte sich zusammen. Hannes beugte zu sich ihm hinunter; tätschelte ihm den Kopf. „Keine Sorge, Tony. Das Licht kann dir nichts tun. Und tatsächlich, er spürte keinen Schmerz. Langsam setzte er sich aufrecht hin und blickte nach draußen: Die Rückseite des Fahrstuhls bestand nur aus Glas. Das Licht war grell, verbrannte ihn aber nicht. Die gesamte Stadt glühte davon. Die Straßen und Häuser sahen aus wie immer – und doch…
Die Fahrt endete abrupt, als der Aufzug mit einem markanten ‚Ping’ zum Stehen kam. Die Aufzugtüren öffneten sich. Tony sah auf einen Flur, der eher in die Chefetage einer Bank passte als in eine Klinik. Nirgendwo Pfleger, Schwestern oder Wägelchen mit Medikamenten. Er roch nicht den typisch-antiseptischen Geruch, der ihn während seines Aufenthalts begleitet hatte.

„Was machen wir hier?“, fragte er und drehte sich zu den Pflegern um. Die Aufzugtüren schlossen sich. Er war allein. Er warf sich gegen die geschlossenen Türen und hämmerte mit den Fäusten dagegen; einen Knopf gab es nicht.

Es war sinnlos; Er blickte hinter sich: Wo er zuvor noch mehrere Flure und Türen gesehen hatte, war nun nur noch ein einziger Gang. Keine einzige Tür führte von dem zentralen Gang ab; der Weg machte nirgends eine Biegung. Tony trottete los; bald spürte er seine Füße brennen, atmete schwer. Ging er im Kreis oder geradeaus? Nach oben oder nach unten? Kam er überhaupt voran? Er fragte sich kurz, ob man ihn in den Wahnsinn treiben wollte, bevor ihm einfiel, dass es dafür längst zu spät war.

Tony blieb stehen und stützte sich auf seine Knie, um Luft zu holen. Auch ein Irrer konnte nicht ewig mit dem Kopf gegen die Wand laufen. Eine verrückte Idee nahm in seinem Kopf Gestalt an. Aus einem Bauchgefühl heraus drehte er sich um; lief in die Richtung, aus der er gekommen war. Es dauerte keine Minute und er stieß mit seiner Nase an eine Bürotür. Er klopfte an. „Herein.“ Tony drückte die Klinke nach unten. Das Büro des Chefarztes war schlicht eingerichtet, Ledersitze, ein antik anmutender Holz-Schreibtisch und eine Fensterfront dahinter. Der Doktor war in eine Akte vertieft. „Ah, da sind Sie ja, Herr Lombardo. Und zwar schneller als gedacht. Nicht wenige sind auf diesem Weg verzweifelt“, sagte Andersen, ohne von dem Papier aufzusehen.

„Sie können einen Wahnsinnigen nicht in den Wahnsinn treiben, Doktor“, sagte Tony.

Andersen prustete. „Das wäre vergebliche Mühe, da haben Sie recht.“

„Was haben Sie also vor?“

„Nennen es einen Test. In meiner Arbeit ist mir mit Formularen und Testbögen nicht geholfen, müssen Sie wissen.“

„Ihre Arbeit als Arzt?“

„Ich bitte Sie, Herr Lombardo, ich habe Sie für schlauer gehalten.“

„Sie haben hohe Erwartungen an einen Irren.“

„Faszinierend“, murmelte Andersen. „Sie haben also nicht nur mitgespielt.“

„Was meinen Sie?“, fragte Tony ratlos.

„Sie sind nicht verrückt, Herr Lombardo. Aber jeder, der das sieht, was Sie gesehen haben, denkt das zunächst.“ Tony stierte den Doktor verdattert an. Er war nicht verrückt? Wo er sich doch in seinem Wahnsinn so wohlgefühlt hatte?

„Sie wirken enttäuscht.“ Andersen fiel Tony in die Gedanken. „Sie haben schon verstanden, was ich Ihnen gerade gesagt habe?“

„Wenn ich noch bei Verstand bin, dann bedeutet das…“, stammelte Tony.

„Dass all die merkwürdigen Bilder, all die unerklärlichen Ereignisse, sich nicht nur in Ihrem Kopf abgespielt haben“, vollendete der Chefarzt den Satz. Er stand auf, ging zur Fensterfront und blickte auf die Stadt. „Ich muss schon sagen, Herr Lombardo, das können Sie besser. Wenn Sie nicht verrückt sind, dann…“

„Ist das hier keine Psychiatrie. Sind Sie kein Arzt. Bin ich hier hier, weil ich Ihnen von Nutzen sein kann“, sagte Tony. Er fühlte sich, als würde er aus einem Traum aufwachen.
„Bravo“, sprach Andersen, indem er sich umdrehte, „Aber wissen Sie auch, was dahinter steckt?“ Tony schüttelte den Kopf. Der Doktor wirkte enttäuscht. Er sprach weiter: „Nun, machen Sie sich keine Sorgen, Sie haben schon mehr erkannt als die meisten.“ Er drehte sich wiederum und sah nach draußen. „Sie halten nicht viel von der Menschheit, oder, Herr Lombardo?“

„Wie meinen Sie das?“ Tony blinzelte frenetisch, als müsse er gegen den Schlaf ankämpfen.

„Sieben Milliarden Menschen sehen sich diese Welt jeden Tag an“, Andersen sprach nun beinahe hypnotisch. „Jeder sieht etwas anderes, doch die Wahrheit sieht niemand. Warum? Weil wir nicht wollen, dass sie sie sehen.“ Der Doktor pausierte, hielt Tony jedoch weiterhin seinen Rücken hin. „Sie sollen die Wahrheit nicht sehen, und es wird von Jahr zu Jahr leichter, sie vor aller Augen zu verstecken. Nur ab und zu taucht jemand wie Sie auf, Herr Lombardo, jemand, dem man nicht so leicht etwas vormachen kann. Jemand, der die Lügen nicht schluckt. Jemand, der das ganze System ins Wanken bringen kann.“

„Ich bin… resistent?“ Tony musste sich jedes Wort zurecht suchen, so als ob jedes einzelne ein Kraftakt war.

„Resistent gegen unsere Kontrolle. Diese Resistenz ist Ihnen allerdings nicht angeboren. Sie waren uns in die Falle gegangen. Als Sie unseren Online-Spielen verfallen waren. Stunden, Wochen, Monate, Jahre, haben Sie mit sinnlosem Knöpfedrücken verschwendet, und dabei gar nicht bemerkt, wie sich die Welt um sie veränderte. Doch Sie konnten sich dieser Kontrolle entziehen. Konnten sich von der Droge entwöhnen. Eine beeindruckende Leistung, übrigens. Wir haben der Menschheit mit der Zeit so viele Narkotika angeboten: Alkohol, Nikotin, Sex, Glücksspiel – alles sind Werkzeuge für uns.“

„Aber wie kann ich dem widerstehen?“

„Was es genau ist, das haben wir auch nach über 70 Jahren noch nicht herausgefunden. Irgendetwas im menschlichen Genom ist es offenbar, dass sich uns widersetzt. Ich fand es immer nachvollziehbar. Ein jeder Organismus kämpft schließlich dagegen an, vernichtet zu werden.“ Tony schluckte hart. Vernichtet?

„Nehmen Sie sich Zeit, ich brauchte auch eine Weile, bis ich es verstanden hatte.“ Andersen drehte sich um und sah Tony direkt in die Augen. „Überlegen Sie: Wir Menschen sind keine Säugetiere. Säuger entwickeln instinktiv ein Gleichgewicht mit ihrer Umgebung. Wir nicht. Wir ziehen in ein Gebiet und vermehren uns, bis alle natürlichen Ressourcen erschöpft sind. Und der einzige Weg zu überleben ist die Ausbreitung auf ein anderes Gebiet. Es gibt noch einen Organismus auf diesem Planeten, der genauso verfährt. Kommen Sie darauf, welcher?“

Andersen pausierte. „Das Virus. Der Mensch ist eine Krankheit, das Geschwür dieses Planeten. Und was macht man mit Geschwüren? Man merzt sie aus! Doch ganz so einfach ist das nicht. So hartnäckig Viren auch sind, Menschen sind noch um einiges schwieriger auszulöschen. Jedenfalls in großen Zahlen. Eine 90 prozentige Ausrottung reicht nicht, auch 95, 98, 99 Prozent sind nicht genug. Die Menschheit muss zu 100 Prozent vernichtet werden. Und ja, mir ist sehr wohl bewusst, dass ich darin miteinbegriffen bin. Ein Opfer, dass ich sehr gerne bereit bin, zu erbringen. Um all dem ein Ende zu bereiten. Die Menschheit verdient die Herrschaft über diesen Planeten nicht.“

Tony sah auf die Stadt hinunter. Er konnte den Schmerz beim Anblick der Häuser und Straßen noch spüren. Diesmal kam es ihm jedoch so vor, als würde es ihm nicht um seiner selbst willen weh tun. Was so schmerzte, war die Sorge um alle anderen Menschen. Waren sie früher oder später alle zum Untergang verdammt? Das konnte er nicht akzeptieren. Hoffnung musste es immer geben.

„Nun sehen Sie, dass ich nicht die Macht habe, Ihren Tod zu verhindern“, unterbrach Andersen Tonys Gedanken. „Aber ich kann ihn hinauszögern. Arbeiten Sie für uns, und Sie werden bis zur Vollendung des Plans weiterleben. Am Ende werden Sie natürlich sterben – aber das ist ohnehin unvermeidlich.“

Darum lebte er noch: Er sollte bei der Vernichtung der Menschheit mithelfen. Seine Immunität würde ‚ihnen’ – wer immer ‚sie’ waren – dabei helfen, alle zu eliminieren, die ihnen gefährlich werden konnten. So wie er.

„Nein“, sagte Tony. Seine Worte schienen nicht aus seinem Mund zu kommen.

„Was?“, fragte Anderson.

„Sie haben mich hierher gebracht, um mich um meine Hilfe zu bitten. Ich lehne Ihr Angebot ab. Ich werde nicht die ganze Menschheit verraten und ihren Untergang damit beschleunigen. Ganz egal, wie bestimmt dieser Untergang auch ohne mein Zutun sein mag.“

Tony konnte nicht sagen, ob es Wut war, die er in Andersens Gesicht sah. War es Enttäuschung? Sorge? „Ist das Ihre endgültige Antwort?“, fragte der Doktor. Tony antwortete nicht. Schweigend ging Andersen zum Telefon. „Frau Michels, bereiten Sie die Formulare vor und sagen Sie dem Krematorium bescheid. Wir haben soeben einen Patienten verloren.“

… Fortsetzung folgt.

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