Piano e larghetto

von Victoria Grader

„Grande! Großartig! Venedig ist traumhaft! Mach‘ Fotos von der Rialtobrücke!“, sagten sie, als ich die Zusage erhielt und die Anstellung bekam. Beschwingt packte ich meine Geige ein und zog auf die Insel.

Im ersten Jahr genoss ich’s noch: Die Opernluft, der Meeresduft, die bewundernden Blicke wenn ich erzählte, ich sei nun Venezianer. Die malerische Schönheit der Stadt verschuldete in kürzester Zeit 17.546 Fotos, die nassen Brücken im strömenden Regen mehrere Kreuzbandrisse. Ich konnte quasi dabei zusehen, wie sich ein Schatten über die magische Stadt legte und ihr Zauber erlosch. Irgendwann grüßte ich nicht mal mehr den Dom, wenn ich vom Festland nach Venedig übersetzte. Hob nur noch eine Augenbraue als Zeichen des Bedauerns.

Mit knurrendem Magen drängle ich mich durch das Accademia-Viertel und beobachte das Treiben auf der Piazza. Dass noch im Herbst so ein Andrang herrscht! Gedankenverloren kaufe ich ein Panino, schlendere ein bisschen am Pier herum, lese Zeitungstitelseiten und wundere mich über die Schlagzeilen: „Millionen-Jackpot nicht geknackt“, „kein Literaturnobelpreis“, „russische Raumstation verbrannt.“ Überall passiert etwas, nur in Venedig spielt sich jeden Tag das Gleiche ab. Seufzend setze ich mich in die Nähe der Anleger und schaue aufs Meer, bis der Orchesterwart Cesare um die Ecke biegt und auf mich zusteuert.

„Iacopo! Iacopo!“, ruft er schon aus der Ferne und winkt. In der rechten Hand schwenkt er einen Plastikbecher mit Wein. ‚Er soll nur aufpassen, dass er nicht über seine eigenen Füße stolpert‘, denke ich, als die Tauben zu seiner rechten und linken davon flattern.

„Na, bist du bereit für deinen Auftritt heute Abend?“, grinst Cesare und nimmt einen tiefen Schluck.

„Klar.“ Ich seufze. „So wie an jedem anderen Abend auch.“ Ich nicke mit dem Kopf in Richtung des Pappbechers und Cesare reicht ihn mir. Dann holt er eine Weinflasche aus seiner Tasche und schenkt etwas nach.

„Heute hab‘ ich dir eine ältere Ausgabe der Noten hingelegt“, freut sich der Orchesterwart. „Von 1840, mit einer schön geschwungenen Notenschrift…“

„Das ist ja toll. Danke Cesare.“ Ich schaffe es nicht, dass meine Stimme wirklich dankbar klingt, seufze dann nochmal und trinke den Becher leer.

„Schön, dass du dich dafür so begeistern kannst. Aber für mich ist es immer dasselbe. Immer dasselbe! Was soll denn da ein anderer Notensatz bringen? Ich spiele das Stück doch schon auswendig. Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, immer dasselbe, jeden Abend. Seit 25 Jahren.“ Und seit 10 Jahren führe ich immer wieder dasselbe Gespräch mit Cesare. Ich weiß schon, wie es weitergeht.

Er fragt mich: „Na, was wäre dir denn lieber?“ Und ich schwärme von Stücken, die ich nur noch in meinen Träumen spiele. Stücke, die nicht Vivaldis Vier Jahreszeiten sind.

Heute sage ich: „Schostakowitschs Zehnte.“ Er nickt und füllt den Becher wieder auf.

„Das müsstest du hören Cesare! E Moll…der erste Satz ein Bild des Wahnsinns. Dann ein kurzes und brutales Scherzo im zweiten. Dadadadamdamdadada, Daaaam Daam!“ Ich werde lauter, meine Hände dirigieren mit. Cesare lacht und füllt den Becher wieder auf. Er reicht ihn mir und schon ist er wieder leer.

„Cesare, ich sag’s dir, das ist genial! Der dritte Satz ist allegretto und versteckt ein Motiv, das Shostakowitschs Geliebter gewidmet ist…und dann das Stalin Thema, das aus dem ersten Satz, das wird im vierten wieder rausgeholt… Dadadadamdamdadada, Daaaam Daam!“ Der Becher ist wieder voll. „Und plötzlich“, schreie ich und gestikuliere dabei wild, „düdüüdüüdüdaaamm!“, der Becher ist wieder leer, „plötzlich, walzt das Horn aus dem Elmira-Thema den Stalin platt!“ Und dann lachen wir, halten uns den Bauch und merken, dass wir betrunken sind.

„Lass uns mal langsam gehen“, nuschle ich mit schwerer Zunge und wir rappeln uns auf. Ziehen vorbei an den Kulissen und den Kulturfreunden mit den Fotoapparaten, die sich hinter dem Guggenheim Museum verlaufen. Ein bisschen angeheitert lässt sich das Gewimmel ertragen. Kurz vor dem Teatro la Fenice bleiben wir stehen und blicken auf das Operngebäude. „Manchmal wünschte ich, sie wäre damals einfach abgebrannt“, sagt Cesare und grinst mich von der Seite an. Ich stocke. „Irgendwas ist anders heute…“, überlege ich und starre weiter auf den prunkvollen Palast. „Siehst du den Schatten Cesare? Siehst du ihn?“ Aufgeregt stoße ich ihn an der Schulter. „Sieh doch Cesare! Die Oper ist das größte Gebäude hier und liegt als einziges im Schatten!“ Suchend drehe ich mich um und sehe, dass auch der Orchesterwart den Mund geöffnet hat und staunt. Immer mehr Musiker, die sich kurz vor Einlass auf dem Opernplatz tummeln, stoßen zu uns und halten gebannt inne. Dann hören wir das Geräusch. Es schleicht sich an, wie das Elmira-Thema im vierten Satz von Schostakowitschs Zehnter. Dann wird es immer lauter. Und schließlich endet es im Höllenlärm.

Als die feuerfesten Einzelteile der russischen Raumstation in die Oper einschlagen und diese langsam abbrennt, fährt mir ein Schauer über den Rücken. Um mich herum wird das Entsetzen laut. Dann schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen. „Es war niemand drinnen“, flüstert Cesare mit funkelnden Augen. „Wir sind frei!“

Während die Menschen um uns herum mit den Händen fuchteln, schreien oder aufgeregt schnattern, lächeln wir beide einfach nur. Mit etwas Glück ist das hier kein Traum, sondern die stählerne Realität. Von tiefer Zufriedenheit erfüllt, denke ich daran, wie ich heute Nacht meinen Koffer packe und Venedig verlasse. Sie werden Mitleid haben. Sie werden sagen: „Orribile! Wie fürchterlich! Das musst du erstmal verarbeiten.“ Und keiner wird mir einen Vorwurf machen, dass ich der schönsten Stadt der Welt den Rücken kehre. Für immer.

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