von Annika Kemmeter
Es war einer dieser ersten Frühlingstage nach einem entsetzlich langen Winter. Und wie so oft kam er mit voller Wucht, als reiße schon der Sommer die Vorhänge aus Schleierwolken auseinander. Am Morgen hatte ich noch geschwankt zwischen Winterjacke und Frühlingsmantel. Nun hing mein Frühlingsmantel über dem Kinderwagen und ich saß in einer waghalsig dünnen, aber langärmeligen Bluse im Park und sehnte mich nach einem T-Shirt.
Die Sonnenstrahlen des heutigen Morgens hatten den Startschuss gegeben, so sprossen kleine, hellgrüne, verkrumpelte Blätter aus den Ästen. Aus Ästen, die gestern noch mit ihren grau-braunen Krallen an der schweren Wolkendecke gekratzt hatten. Im Brunnen vor mir schoss eine Fontäne in die Höhe, als hätte sie nie etwas anderes getan. Als hätte es ihren Winterschlaf nicht gegeben. Das Holz der Gartenbank wärmte meinen Rücken. Mein Baby schlief selig in der frischen Luft. Ich streckte mich und da keiner hier war, tat ich etwas, was ich noch nie getan hatte, weil ich mir dabei unter den Blicken der Leute schäbig vorgekommen wäre: Ich legte mich auf die Bank wie ein Penner und genoss die Ruhe, das Liegen und den Anblick des Brunnens. Und während ich das Glitzern der glatten Wasseroberfläche bestaunte, die von Marmorschale zu Marmorschale glitt, und die, obwohl sie ständig floss ganz ruhig wirkte, dachte ich plötzlich: So ist das Leben! Genau so. Das ist sein Sinn, sein Wesen, seine Erfüllung. Die Fontäne schenkte der obersten der drei Marmorschalen überschwänglich ihr Wasser, so dass die übervolle Schale ihr Wasser an die zweite Schale weitergab, diese bis über den Rand füllte, sodass auch die zweite überfloss und ihrerseits das Wasser an die dritte Schale gab, aus der sich die Fontäne speiste, die emporschoss, um die erste zu füllen. Und all das geschah gleichzeitig. In einer steten, ruhenden Bewegung.
Da war das Baby auf die Welt gekommen und es lag und schlief und manchmal weinte es zaghaft und bekam Milch, Zuwendung, Wärme, Nähe, Liebe. So viel bis es voll war davon, voller Liebe, sodass es fröhlich lächelte, seine Hände nach mir ausstreckte, mein Gesicht berührte und mir seine Liebe weitergab, mich damit überfüllte, sodass die Fontäne in mir nie versiegte. Diese Liebe, sie strömt in uns, durch uns und ruht in uns zur gleichen Zeit und ist unser Elixier. Der einzige Unterschied, dachte ich, besteht darin, dass es in uns keinen Winter gibt und dass das Wasser nicht ausgeschaltet wird. Dann dachte ich an die vielen schlimmen Schlagzeilen, die ich in meinem Leben schon gelesen hatte und dachte: Jedenfalls gibt es keinen Winter in mir. Das hoffte ich. Und ich spürte es. Beim Anblick des römischen Brunnens.
Dieser Text entstand durch ein Schreibspiel: Man nehme sein Lieblingsgedicht (keine Ballade!) und verfasse – mit dem Gedicht als Inspirationsquelle – einen Prosatext. Meine Inspirationsquelle war:
Der römische Brunnen
Von Conrad Ferdinand Meyer
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.