von Ina Nádasdy
Christkind kam in den Winterwald,
der Schnee war weiß, der Schnee war kalt.
Doch als das heil’ge Kind erschien,
fing’s an, im Winterwald zu blühn.*
Eine Schneerose blühte am Waldrand, nicht fern vom Moor. Ungewöhnlich, es war doch erst Weihnachten. Elias stand unschlüssig auf dem Weg, starrte auf die kleine, weiße Pflanze und rieb sich die Hände. Er blies auf seine Fingerkuppen, die von den Handschuhen nicht bedeckt wurden, und hoffte, dass die Kälte sich legte. Neulich war die Blume noch nicht da gewesen. Elias sah sich um. Er war ganz alleine hier auf der Russenstraße, ein streng gerader, breiter Weg, der von kahlen Bäumen gesäumt war. Sie wirkten so tot. Aber nicht diese kleine Rose. Sie musste gewachsen sein, nachdem er es getan hatte. Oder war sie bereits da gewesen? Er erinnerte sich nur noch an Bruchstücke, wie wenn man sich an einen Traum erinnert.
Es war hier gewesen. Er war die Russenstraße entlangspaziert, bis er einen roten Apfel auf dem Weg liegen gesehen hatte. Ein Schatten war vorübergehuscht und der Apfel war weg gewesen. Mit den Hände in den Hosentaschen hatte er angefangen, mit seinem Taschenmesser zu spielen. Das Messer in der Hand hatte ihn beruhigt. Warum er sich gefürchtet hatte, wusste er nicht.
Dann hatte er es gesehen, das Christkind, wie es Tannenzapfen vom Weg gesammelt hatte und wie seine Engelslocken bei jeder Bewegung gesprungen waren. Elias hatte ihm eine Weile zu gesehen, wie es spielend den Weg nach Geschenken durchsuchte. Wie eine kleine Blume im Wind hatte es ausgesehen. Er hatte es brechen wollen. Und es brach durch seine Hand. Kaum, dass er das Christkind im Moor versenkt hatte, hatte es zu schneien begonnen. Große, dicke Flocken, die alles unter sich begruben und über den sanften Schlaf des Kindes wachten. Aber immer, wenn er nun die Augen schloss, sah er die verdreckten Locken vor sich und das Blut des toten Christkinds an seinen Händen.
So auch jetzt, und er fühlte, wie sich sein Magen überschlug und verkrampfte. Er würgte und übergab sich. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund. Wo war eigentlich der Schnee?
Hatte es überhaupt geschneit? Schnee zu Weihnachten gab es seit Jahren nicht mehr. Etwas raschelte im Dickicht. Elias drehte sich hin und sah eine grünschuppige Eidechse, die ihn mit neugierigen Augen anstierte. Mit zitternden Fingern holte er eine Zigarette aus seiner Manteltasche und zündete sie an. Er musste sich beruhigen. Er hatte gedacht, er hätte einen Drachen gesehen. Rauch einatmen. Rauch ausatmen. Einen Drachen. Ein und aus. Ein. Aus. Er ließ die Zigarette fallen und lief los. Er musste hier weg, er musste sich bewegen. Er lief zu seinem Auto, das er am Waldrand geparkt hatte, und fuhr los. Er nahm die Umgehungsstraße nach Rosenheim. Die Berge bauten sich wie bedrohliche Riesen vor ihm auf. Er wollte nicht nach Hause, aber das, was hinter ihm lag, war schlimmer.
Christkindlein trat zum Apfelbaum,
erweckt ihn aus dem Wintertraum.
„Schenk Äpfel süß, schenk Äpfel zart,
schenk Äpfel mir von aller Art!“*
Sie wussten es. Elias wusste, dass sie es wussten. Es musste so sein. Jeder Blick, den sie ihm zuwarfen, verriet es. Die Leute, die ihm entgegen kamen, sahen ihn so misstrauisch an. Warum sagten sie nichts?
Er spielte mit seinem Schlüsselbund. Sein Auto hatte er in der Nähe abgestellt. Wo genau? Er umschloss seinen Oberkörper mit seinen Armen, um sich beisammen zu halten. Er flüchtete vor den Menschen unter die Arkaden, drückte sich an die Wand und beäugte die Leute. Sein Puls raste, er spürte, wie seine Halsschlagader sich bewegte. Er stellte sich vor, sich mit einem Messer genau dort zu ritzen. Das Blut müsste dann wie eine Fontäne aus ihm herausschießen. Wenn dann genug Blut geflossen wäre, würde sich der Puls beruhigen. Da war er sich sicher. Mit der einen Hand hielt er sein Taschenmesser fest, zur Sicherheit, mit der anderen drückte er sich auf die Ader, fühlte den Blutstrom und drückte ihn hin und wieder ab.
Seine Angst wurde größer, aber er konnte sie nicht fassen. Er schlief kaum noch. Und wenn, träumte er schlecht. Er träumte von einem hellen, lodernden Feuer, das ihn zu verschlingen drohte. Lief er davon, gelangte er zu einem Abgrund, in dem die Dunkelheit auf ihn wartete.
Was tat er hier? Verunsichert blickte er nach links und rechts. Wohin sollte er gehen? Er fürchtete das Alleinsein. Suchte er deswegen menschliche Gesellschaft? Gerade, als er einen Schritt nach vorne machen wollte, wirbelte ein kleiner Junge lachend an ihm vorbei. Der Junge schien seinen Fehler zu merken, machte rasch kehrt und kam mit gesenktem Kopf auf Elias zu. Er drückte ihm einen grünen Apfel in die Hand und lächelte ihn an. Vor Schreck hätte Elias den Apfel fast fallen gelassen, denn statt Augen hatte der Junge nur schwarze Augenhöhlen, aus denen ihn Etwas angrinste. Er konnte nicht so schnell schauen, da war der Junge weg. Jetzt erst wurde er sich des Obstes in seiner Hand bewusst.
Warum einen Apfel? Verwirrt sah Elias in die Richtung, in die der Junge gelaufen war, dann wieder auf den Apfel. Was für ein besonderes Geschenk! So einfach und doch gewaltig. Nie in seinem Leben hatte Elias etwas in Händen gehalten, dass derart wertvoll und mächtig war.
Der Apfelbaum, er rüttelt sich,
der Apfelbaum, er schüttelt sich.
Da regnet’s Äpfel ringsumher;
Christkindlein’s Taschen wurden schwer.*
Lange irrte er durch die Stadt. Er wollte von der Erinnerungen weg. Er hatte sich zwar erholt von den Bildern des toten Christkinds und des augenlosen Jungen, doch überall waren diese vielen Lichter, diese fröhlichen Menschen, die spielenden Kinder. Die Freude, die Heimlichkeit, die waren für ihn nicht zu ertragen. Er lief über den Max-Josef-Platz. Der darauf aufgebaute Christkindlmarkt und die Schar von Menschen waren dabei ein großes Hindernis. Er flüchtete in eine kleine Gasse hinein, die zum Hinterhof der St. Nikolaus Kirche führte – fort von den Gerüchen von gebrannten Mandeln und Vanille. Dort war es ruhiger. Er ließ sich auf den Stufen eines Hintereingangs nieder und starrte auf das Kopfsteinpflaster vor sich. Schwach ließ sich das Labyrinth erkennen, das die fast verblichenen rot gefärbten Steine zeichneten. Mit den Augen verfolgte er den Weg. Er hatte ein kleines Mädchen getötet. Er hatte es getötet und im Moor versenkt. Doch je länger er versuchte, dieses Bild zu sehen, umso mehr entglitt es ihm. Hatte er es wirklich getan?
Elias verbarg sein Gesicht in seinen Händen, bis er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Ein Mann in schwarzer Kutte, ein Priester, setzte sich neben ihn auf die Stufen.
„Eine hektische Zeit, nicht wahr?“, fragte er mit einer Stimme, die eine sehr beruhigende Wirkung auf Elias hatte. Er hatte langes, gewelltes Haar und einen Bart. Er erinnerte Elias an Dürers Jesus.
„Die Leute rennen und hetzen, und vergessen ganz, worum es in dieser Zeit eigentlich geht.“ Er machte eine Pause und ließ den Blick schweifen. „Sie denken, es ginge ums Schenken. Je teurer, desto besser. Und doch übersehen sie, wie es ihren Mitmenschen geht. Dich scheint etwas zu bedrücken.“
„Jeden bedrückt etwas. Und helfen kann doch keiner.“
„Natürlich gibt es einen, der helfen kann.“
Elias lachte auf. „Ja? Wo war er all die Jahre, als ich ihn gebraucht hätte?“ Wo war Gott gewesen, als Elias‘ Mutter bei seiner Geburt verstarb? Wo war Gott gewesen, als sein Vater ihm dies jedes Jahr erneut vorgeworfen hatte?
Seine Mutter hatte sich so auf dieses Kind gefreut. „Christkindl“, wie sie es genannt hatte, denn Elias sollte genau am Heiligabend auf die Welt kommen. Und dass Elias gekommen und die Mutter gegangen war, das konnte ihm der Vater nie verzeihen und Elias sich auch nicht. Weihnachten war die schlimmste Zeit. Als Kind fürchtete er stets, sein Vater würde gehen und ihn zurücklassen oder ihn verstoßen.
Elias stand auf. „Sie meinen es gut, aber mir ist nicht mehr zu helfen.“ Er sah zu dem Priester auf. Verwirrt sah er ihn länger als nötig an. Er hatte schwarzes Haar und war glatt rasiert. Jetzt war es ihm bewusst: Er war verlassen von Gott und den Menschen, und er war ohne Hoffnung. Seine Situation glich einem Drachen, den er nicht bezwingen konnte.
Die süßen Früchte alle nahm’s,
und so zu den Menschen kam’s.
Nun, holde Mäulchen, kommt, verzehrt,
was euch Christkindlein hat beschert! *
In Rosenheim hatte Elias es nicht mehr ausgehalten. Es waren zu viele Menschen dort gewesen. Entweder waren sie zu fröhlich für sein Gemüt oder aber sie schimpften. Es war so erbärmlich.
Am Abend war Elias wieder in sein Dorf zurückgekehrt. In seine Wohnung wollte er nicht. Es zog ihn zum Dorfplatz, zu dem kleinen Bach mit den Enten. Er ging, wohin ihn seine Füße führten. Er achtete nicht darauf, ob er geradeaus oder in Schlangenlinien ging.
„Vorsicht, junger Mann“, rief eine Dame, die versuchte, sich mit ihren prall gefüllten Taschen an Elias vorbeizuquetschen. Ihrem Akzent nach osteuropäisch.
„’Tschuldigung“, nuschelte er, trat zur Seite und rieb sich die Hände vor Kälte. Erst dann sah er sie an. Sie hatte mit ihren Taschen voller Äpfel zu kämpfen und versuchte alles zu balancieren, dass nichts hinunterfiel. Aber es wackelte beträchtlich, und fiel schließlich doch hinab. Elias fing auf, was er greifen konnte, und sammelte den Rest auf.
„Ah, vielen lieben Dank, junger Mann“, lachte die Frau.
Ob er ihr beim Tragen der Äpfel helfen könne. Und seine Hilfe nahm die Frau dankbar an. Sie gingen an der Dorfkirche vorbei, die sich wie eine mächtige Kriegerin beschützend an ihrer Seite aufstellte. Ehrfürchtig blickte Elias an ihrem alten Gemäuer hinauf zum Glockenturm.
„Sie ist wunderschön nicht wahr, unsere St. Margaretha?“, plauderte sie los, wenn gleich auch ein wenig außer Atem. „Wir tragen den gleichen Namen. Ich heiße Margaréta.“ Auch Elias stellte sich vor.
Nach Abladen in der Küche bedankte sie sich überschwänglich bei ihm, als sie ihm eine Tasse Tee vorsetzte.
„Sag, warum irrst du Heiligabend so in der Gegend herum?“, fragte sie.
„Ich hab keinen Platz, wo ich hin kann.“
„An Heiligabend ganz allein?“
„Ist das schlimmer als an einem anderen Tag alleine zu sein?“
Die Frau lachte. „Weihnachten ist in meiner Familie ein großes Fest.“
Elias hielt seine Tasse ganz fest, um sich am heißen Tee zu wärmen, obgleich es nicht gelang.
„Wofür die vielen Äpfel?“
Margaréta lachte. Sie mache an Heiligabend gerne Apfelstrudel und an den Feiertagen Marmelade und Gelee. Eine Bekannte würde ihr die Äpfel schenken. „Möchtest du mir beim Backen helfen?“
Er nickte. Dann wurde er sich des Apfels bewusst, der sich noch in seiner Tasche befand, und griff danach. Aber er fasste ins Nichts. Er hatte ihn doch eingesteckt! Er hatte ihn in der Hand gehalten. Er spürte noch die wächserne Oberfläche.
„Weißt du, wir haben einen Brauch zu Weihnachten. Man teilt einen Apfel unter allen Anwesenden auf. Es bringt Glück und Gesundheit. Sollen wir?“
Elias nickte. Er war überwältigt von ihrer Energie. Sie war fröhlich und so licht, dass der ganze Raum erstrahlte. Sie war wie eine Sonne, um die er sich drehen musste. Es fühlte sich so richtig an, hier zu sein.
Er beobachtete sie, wie sie alle Backutensilien auf den Küchentisch stellte und wartete ihre Anweisungen ab. Er befolgte alles, was sie sagte, und mit jedem Lob von ihr wurde er fröhlicher, offener und lebendiger. Sie backten, redeten und lachten fast die ganze Nacht. Später bereitete sie ihm ein Bett auf ihrer Couch und wünschte ihm einen erholsamen Schlaf.
Als Margaréta am nächsten Morgen das Wohnzimmer betrat, fand sie eine leere Couch vor. Bis auf das Bettzeug gab es keine Spur mehr von dem jungen Mann. Sie hatte bemerkt, dass etwas Schweres auf seiner Seele lastete, aber auch den hoffnungsvollen Schimmer hatte sie gesehen. Sie fragte sich, ob er sich seinem Kampf stellen würde. Drachen sind ja nur deshalb gefährlich, weil wir vor ihnen fliehen.
* Ernst von Wildbruch: Christkind kam in den Winterwald
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