von Ina Nádasdy
Er roch den typischen Chlorgeruch, den er seit seiner Kindheit liebte, und er hörte das Kindergeschrei, das ihn heutzutage verkrampfen ließ. Denn dabei dachte er immer nur an sie. Seinen Stift hielt er so fest, dass seine Hand verkrampfte und die Knöchel weiß hervortraten. Normalerweise lenkte ihn das Schreiben immer gut ab, nur heute wollte es nicht gelingen.
Zwar hatten sie sich in eine ruhige Ecke verzogen, aber dennoch liefen ständig Kinder an ihnen vorbei. Uriel seufzte und warf den Stift fort. Sein Bruder sah besorgt zu ihm.
„Wir hätten nicht hierher kommen sollen“, murmelte Uriel und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
Cornelius legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ganz ruhig. Wir kriegen das hin. Nur drei Stunden. Das schaffst du schon. Wir bleiben einfach hier sitzen.“ Dann lächelte er verschmitzt: „Außerdem hast du dir das selbst eingebrockt.“
„Ich kann deiner Tochter halt nichts abschlagen. Aber ehrlich jetzt, ganz schlechte Idee.“
„Papa!“, rief Cornelius‘ Tochter aufgeregt, während sie auf ihn zulief. „Ich hab ‘nen Kopfsprung geschafft!“ Ciara trocknete sich grob ab und zog den nassen Badeanzug aus.
Uriel sah verschämt weg. Da bemerkte er seinen Stift, den er vorhin weggeworfen hatte. Und diesen Stift fand er nun unwahrscheinlich interessant. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Cornelius seiner Tochter ein Handtuch umlegte. Uriel glaubte seinen Blick zu spüren. Diese Vorstellung tat weh. Natürlich verstand er Cornelius‘ Sorge, und sein Misstrauen war durchaus angebracht, aber es versetzte ihm doch einen Stich.
Ciara aber lief zu Uriel hin und fasste seinen Arm. „Onkel Uriel?“ Ein Schauer durchlief ihn – glücklicherweise unbemerkt. Was für eine liebliche Berührung. Ihre kleine Hand auf seiner nackten Haut. Er müsste nur ein wenig seine Hand bewegen, um sie zu berühren.
Cornelius fasste das Mädchen und zog sie weg. „Lass ihn jetzt in Ruhe! Und zieh dich an, Herr Gott noch eins!“
„Au!“, protestierte Ciara gegen seinen harten Griff. „Du tust mir weh!“ Aber trotzdem folgte sie artig und zog einen trockenen Badeanzug an.
„Mach einfach“, zischte ihr Vater ihr durch die Zähne zu.
Das saß. Das dachte sein kleiner Bruder also von ihm. Der Bruder, der immer für Uriel da war, der sich für ihn eingesetzt hat, der ihn gegen die Eltern und die anderen Kinder verteidigte. Das ertrug Uriel nicht, sprang auf, lief zu den Umkleiden und schloss sich in eine ein. Er setzte sich auf das kleine Bänkchen, ließ seinen Kopf gegen die Wand fallen und wartete, bis er wieder bei klarem Verstand war. Er dachte an verschiedene Atemübungen, an Wirtschaft und Politik. Heute Abend könnte er schreiben, alles aufschreiben, was er sich jetzt zu denken verwehrte. Aufschreiben, wie er sie streichelte und küsste und – Halt! Falsche Richtung! Falsche Gedanken! Es ist die Tochter seines kleinen Bruders. Seine Nichte. Diese Gedanken sind falsch! Es ist ein kleines Mädchen. So viel mehr falsch!
Er schmeckte Blut und bemerkte jetzt erst, dass sich seine Lippe blutig gebissen hatte. Aber der Schmerz half. Er musste sich jetzt zusammenreißen. Nur noch wenige Stunden. Das ist machbar. Er musste sich nur irgendwie ablenken und Kindern aus dem Weg gehen. Weniger machbar. Er hätte nie einwilligen dürfen. Aber sie hatte ihn so angefleht, dass er nicht auskommen konnte. Half ja alles nichts, da musste er jetzt durch! Er nahm noch einen tiefen Atemzug, richtete seine Badeshorts und machte sich auf den Weg zurück.
Als er aus der Umkleide kam, rannte Ciara schon auf ihn zu. „Onkel Uriel, komm mit mir ins Wasser!“
„Ach, Engelchen, du weißt, ich kann nicht … Chlorallergie … und so …“ Chlorallergie? Was hatte er sich denn dabei gedacht?
„Das ist gelogen“, klagte sie. „Das stimmt gar nicht!“ Tränen traten in ihre Augen und sie stampfte mit dem Fuß auf. Sie packte seine Hand und zog an ihm. „Komm schon! Weil ich doch gestern Geburtstag hatte!“
Er zögerte. Überfordert sah er sich nach Hilfe um, aber da war niemand. „Aber nur kurz“, sagte er und – wider besseren Wissens – ging er mit. Ciara zog ihn mit zu einem Schwimmbecken, das sich sowohl im Schwimmbad als auch im Freien befand und schwamm mit ihm hinaus. Er versuchte so gut wie möglich den Abstand zu wahren, aber sie machte ihm da einen Strich durch die Rechnung. Sie schwamm auf ihn zu und schlang ihre Arme um seinen Hals, dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich hab dich sehr lieb, Onkel Uriel.“
Er biss sich wieder auf die Lippen. „Ich hab dich auch lieb, Engelchen.“ Er spürte einen Kloß in seinem Hals. Wo zum Teufel war Cornelius? Er hatte doch versprochen, ihn nicht allein zu lassen. Er musste schauen, dass er hier weg kam. Jetzt schlang sie sogar noch ihre Beine um ihn. Herrgott! Und er hielt sie auch noch fest. Sie plapperte vergnügt vor sich hin, aber er hörte kein Wort, das sie sagte. Er fühlte nur noch ihre weiche Haut unter seinen Händen. Das musste aufhören! Aber anstatt sich von ihr loszumachen, drückte er sie fester an sich. Allerdings so, dass sie seine Erektion nicht spüren konnte. Die Leute um sie herum störten ihn nicht, sie beachteten ihn nicht mal. Er vergrub sein Gesicht in ihrem nassen Haar und ihr Duft stieg ihm in die Nase. Das war so falsch! Er musste sie wegstoßen! Aber er wollte sie doch nur berühren. Er biss sich auf die Lippen und schmeckte wieder Blut. Schluss damit! So verlockend sie auch für ihn war, das könnte er keinem Kind antun. Aber vielleicht konnte er den Augenblick noch etwas länger genießen? Nein! Das reicht. Er packte sie und schob sie von sich. Er brachte zwar nur ein gequältes Lächeln zustande, aber es reichte aus, damit sie keinen Verdacht schöpfte.
Dann zwickte ihn etwas am Arm. Cornelius! Dieser lockte Ciara zu sich und sie folgte sofort seinen Spielereien und schwamm zu ihm.
„Ciara, willst du jetzt ein Eis haben?“, fragte er sie und lächelte sie liebevoll an.
„Oh ja!“
„Na dann, auf. Abtrocknen und umziehen. Ich komm gleich nach.“ Cornelius sah ihr noch kurz nach und drehte sich dann zu Uriel. Zorn und Abscheu lag in seinem Blick. „Ich hab dir vertraut. Verschwinde!“
„Du hast mich allein gelassen“, schrie Uriel ihn an. „Du hast dein Versprechen gebrochen! Und es ist nichts pass-“
„Nichts passiert? Es ist schon viel zu viel passiert! Verschwinde!“, spie Cornelius nochmal. „Ich will dich nicht mehr sehen! Verschwinde!“
„Cornelius … Conni …“
„Hau ab!“
Uriel verließ das Becken und packte seine Sachen zusammen. Er achtete tunlichst darauf, Cornelius und seiner Tochter nicht mehr über den Weg zu laufen. Er zog sich schnell um und verließ das Schwimmbad. Er lief stur geradeaus, bis er keine Menschen mehr sah und ließ sich an einer Hausmauer zu Boden gleiten. Mit den Armen um die angezogenen Beinen saß er da und blinzelte die Tränen weg. Jetzt war er allein. Wie sollte er weitermachen?
Ciara würde ihm sehr fehlen. Er vermisste schon jetzt ihre liebe und offene Art. Er hatte es genossen, von ihr geliebt zu werden. Mit seinen Berührungen hatte er alles kaputt gemacht. Er hatte ihr immer nur nahe sein wollen.
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