um mir nicht vollkommen nutzlos vorzukommen, habe ich mir heute von der Kellnerin einen Stift und einen Zettel geliehen. Und jetzt schreibe ich diesen Brief an dich. Weil mir sonst nichts Besseres einfällt.
Außerdem habe ich sowieso ein paar Fragen an dich.
Aber zunächst will ich dir versichern: Ich habe stets versucht, ganz in deinem Sinne zu handeln. Und ich glaube, ich habe es gut gemacht. Aus all meinen Kindern ist etwas geworden. Der Helmut hat sich als Anwalt hervorgetan, und mein Jüngster, der Viktor, hat sogar sein eigenes Architektur-Büro eröffnet. Nur die Vroni hat uns mal Sorgen bereitet, als sie lieber nach Neuseeland zu ihrem Freund wollte, statt ein Studium aufzunehmen und Lehrerin zu werden, wie es eigentlich geplant war. Aber mittlerweile ist sie Krankenschwester und glücklich damit. Und das ist doch das Wichtigste. Das habe ich auch immer zu meinen Kindern gesagt.
„Mir ist egal, was ihr später mal macht“, habe ich gesagt. „Hauptsache ihr werdet glücklich dabei.“ Und das sind sie. Alle drei sind sie heute verheiratet und haben Kinder. Ich denke, ich habe es geschafft.
Das ist das Leben, oder?
So muss es doch sein. Ich habe immer alles richtig gemacht. Und jetzt sitze ich hier herum. Und weiß zum ersten Mal nicht, was zu tun ist. Eigentlich wollte ich ja zu ihm gehen. Aber irgendwie fehlt mir der Mut dazu. Also, habe ich mich wieder in das Café gegenüber vom Friedhof gesetzt und mir einen Cappuccino bestellt. Es ist noch nicht lange her, dass wir ihn beerdigt haben, meinen Gustav. Seither hatte ich mir vorgenommen, ihn jeden Sonntag zu besuchen. Aber bisher habe ich es noch nie geschafft. Stattdessen sitze ich jedes Mal hier, trinke Cappuccino und beobachte die Menschen, wie sie kommen und gehen: Junge und Alte, verliebte Pärchen, Ehepaare mit ihren Kindern, Menschen, die sich gegenübersitzen und über ihre Smartphones wischen. Wenn man dann aber genau hinsieht, bemerkt man, dass sich unter dem Tisch ihre Beine berühren. Das ist rührend. Vielleicht ist das einfach nur eine andere Art Intimität? Solche Dinge beobachte ich also. Und dann denke immer zu nach; seltsame Gedanken über das Leben habe ich plötzlich.
Ich habe die Menschen nie verstanden, die einfach nur herumsitzen und unentwegt nach dem Sinn des Lebens suchen. Diese Weltenbummler. Diese Generation moderner Hippies, die ewig jung sein wollen. Die sich dem wahren Leben nicht stellen und meinen, immer etwas Besonderes erleben zu müssen. Sie machen Yoga und sind ständig auf der Suche nach sich selbst. Als ob man sich selbst je entfliehen könnte. Die ganze Welt wollen sie sehen, fliegen nach Thailand und Istanbul. „Richtig leben“, nennen sie das.
Aber was wissen sie denn schon vom richtigen Leben? In die Rentenkasse einzahlen, das ist doch wichtig! Darum habe ich, nachdem die Kinder aus des Haus waren, auch wieder als Bürohilfe angefangen. Man muss doch fürs Alter vorsorgen. Sich absichern. Man kann doch nicht einfach nur in den Tag hinein Leben. Als wäre es nur ein Spiel.
Auch mein Gustav hat immer in seine Rentenkasse eingezahlt. Und jetzt, ein paar Monate vor seiner Pensionierung, ist er gestorben. Nein, das Leben ist kein Spiel, oder?
Aber wieso habe ich die Möglichkeit zu sterben, bevor ich in Rente gehe, nie in Betracht gezogen?
Haben wir etwas falsch gemacht? Hätten wir es besser machen können? Dieses Leben? Woher soll man es denn wissen, wenn dein erste Versuch zugleich dein letzter ist?
Und Carlos… Hätte ich die Affaire mit ihm eingehen sollen? Aber ich war doch eine gestandene Frau mit Prioritäten. Kein leichtes Mädchen. Nicht wie diese jungen Dinger heutzutage, die von Einem zum Anderen laufen, als würden sie dort Gott-weiß-was finden. Am Ende ist es doch immer dasselbe. Man kann doch nicht ständig auf der Suche nach etwas Besserem sein. Man muss sich doch auch einmal mit etwas abfinden, oder?
Außerdem habe ich ihn ja geliebt, meinen Gustav. Das habe ich nie in Frage gestellt.
Und jetzt? Wo soll ich nun hin mit meiner Liebe? Einem neuen Mann schenken? In meinem Alter? Nach 40 Jahren Ehe? Die Zeiten sind vorbei für mich. Aber was soll ich denn jetzt machen? Mit mir, meine ich? Was mache ich, wo mein lieber Gustav mich jetzt verlassen hat? Meine Kinder mich nicht mehr brauchen? Und ich bald nicht mehr jeden Tag aufstehe und in die Arbeit gehe? Wir hatten doch schon alles geplant; wie es aussehen sollte, das letzte Kapitel. Das halbe Jahr auf der Alm, die restliche Zeit zu Hause, im Garten oder vor dem Fernseher. Vielleicht mal eine Kreuzfahrt machen. Mehr Zeit mit der Familie verbringen. Unsere Enkelkinder aufwachsen sehen. Es war doch alles schon geplant.
Liebes Leben, ich bin jetzt fast 65 Jahre alt. Ich habe immer gewusst, was richtig ist und habe stets danach gehandelt. Ich habe alle Regeln befolgt. Es ist jetzt fast vorbei. Und eigentlich sollte ich wissen was zu tun ist. Aber aus irgendeinem Grund, stehe ich hier und habe mehr Fragen als Antworten. Also, wende mich nun an dich, in der Hoffnung, du kannst mir ein paar davon beantworten.
Oder wenn das zu viel verlangt ist, dann kannst du mir vielleicht auch einfach nur sagen, ob ich es gut gemacht habe. Das würde mir schon sehr helfen.
In Liebe
Deine Helga
von Lydia Wünsch