Der Garten

von Lydia Wünsch

Wenn ich von Gärten rede, dann meine ich nicht die kleinen, grünen Vierecke in den sauberen Wohnanlagen. Ich rede von den richtigen Gärten. Den verwilderten. Von denen, die eine Geschichte erzählen. Ich rede von Gärten, in denen das Gras so hoch wächst, dass ein Kleinkind sich darin verstecken kann. Von einem Garten, in dem Bäume wachsen. Ich rede von einer alten Terrasse mit bröckelndem Steinboden und Grashalmen, die zwischen den Spalten herausschauen. Von Gärten, in denen Unkraut wächst. Und in denen es kleine, kaputte Holzschuppen mit Plastikdächern gibt, in die es rein regnet. Und Sandkästen für Kinder. Und Planschbecken, die im Sommer aufgeblasen werden. Nackte Kinderpopos in der Sonne. Mütter, die auf der Terrasse eine Zigarette rauchen und ihren Kindern beim Spielen zusehen. Die Zigarette schnell hinter dem Rücken verstecken, wenn eines von ihnen auf sie zugerannt kommt. Einmal hat sie es nicht rechtzeitig geschafft. Da habe ich mich verbrannt. Ich habe laut geweint. Und sie hat mich getröstet. Geweint habe ich auch, als mich eine Biene in den Nacken gestochen hat. Dieses Miststück hat mich von hinten attackiert, als ich in einem dieser Gärten saß und ein Kinderbuch las.

Bis heute habe ich ein Faible für alles Kaputte. Kaputte Häuser, von denen die Farbe abblättert. Kaputte Zäune, raues Holz an dem man sich einen Schiefer holt, wenn man es im Vorbeigehen streift. Nägel, die heraus schauen. Türen, die knarzen. Dächer, die undicht sind, oder Wasserhähne, die tropfen. Teller, die gesprungen sind. Wände, die Risse haben. Alte Möbel, altes Holz, modriger Geruch. Suppe, die auf dem Herd vor sich hin köchelt. Oder ist es die weiße Wäsche, die ausgekocht wird? Meine Oma, die weiße Laken mit Kernseife auswäscht. Das Laken am Waschbrett reibend. Oder wie sie den Brotteig knetet, wie sie vor der Haustüre sitzt und Bohnen schält. Manchmal durfte ich ihr helfen. Es hat Spaß gemacht die langen Bohnenhülsen mit dem Fingernagel zu öffnen und dann die kleinen Böhnchen herauszuholen. Es war ein Spiel für mich.

Zu Ostern haben wir unsere Nester in dem Garten gesucht, die Mama am Abend zuvor versteckt hatte. Es gab viele Möglichkeiten für Verstecke in diesem Garten. Man konnte die Nester hinter einen Baum legen, oder in den Spalt zwischen Schuppen und Haus, oder hinter einen großen Steinhaufen. Was immer er in diesem Garten auch zu suchen hatte? Ich weiß es nicht, denn das Haus gehörte uns nicht. Wir waren nur zur Miete hier. Die ganze Familie. Drei Generationen.

Meinen vierten Geburtstag in dem Garten feiern. Mit meinem kleinen Bruder auf der Decke herumkullern oder im Sandkasten spielen. In diesem Garten wurde gelebt. Laut und unordentlich. Wie meine Familie eben war. Keine Rasenmäher und Pflanzengießer, sondern Raucher, Streiter, sich wieder Vertrager und Feierer, Herumlungerer, Gauner – zumindest einige von ihnen. Flohmarktgänger, Spielzeug für mich Kaufende, mich Küssende, mir den roten Mund Abwischende, wenn wir mittags Spaghetti aßen. Mir eine Puppe vom vom Flohmarkt Mitbringende. So groß wie ich selbst mit drei Jahren war. Sie hatte kurzes, schwarzes Haar und ich nannte sie Trissi. Wenn ich Trissi mit mir herumtrug, sorgte das für Gelächter in der großen Wohnküche. Ich freute mich an dem Lachen. Wenn in der Familie gelacht wurde, wurde nicht gestritten. Also machte ich weiter. Zog die Stöckelschuhe meiner Tante an und spielte erwachsene Frau. Sie mochten das und machten Fotos von mir. Ich nahm einen Stift zwischen die Finger und tat so, als würde ich rauchen. Ganz so, wie ich es bei ihnen gesehen hatte. Ich nahm Papier, das meine Mutter wegschmeißen wollte und steckte es in eine kleine, alte Handtasche aus schwarzem Lack. Sorgfältig aufgereiht, so, dass ich mit denn Fingern darin herumkruschen konnte, als handelte es sich um wichtige Dokumente. Manchmal nahm ich ein Blatt heraus und kritzelte etwas Unverständliches darauf. Dann hielt ich es jemandem unter die Nase und wies ihn an, es vorzulesen. Ich steckte es zurück, schloss meine Tasche sorgfältig und hängte sie mir über die Schulter. Dann stöckelte ich weiter. Schon damals hatte ich eine Leidenschaft für das Schreiben.

Vier Jahre alt sein. Kind sein. Seinen Leidenschaften nachgehen. Andere durch deine bloße Anwesenheit erfreuen. Durch dein Lachen, deine Tränen. Alles herauslassen, jeder Emotion sofort Ausdruck verleihen. Schmerz spüren. Liebe empfinden. Warme Sonnenstrahlen auf der Haut spüren und kaltes Eis an der Zunge. Mit dem Bruder streiten, wenn er sich an Weihnachten mehr für deine Geschenke interessiert als für seine. Mitleid empfinden als ihm sein Salzgebäck zerbricht. Es war ein Korb und er trug ihn als wäre er echt. Als der Henkel abbrach, hat er geweint. Man konnte ihn nicht reparieren. In der Familie wurde darüber diskutiert, was nun zu tun wäre. Ich habe beobachtet, wie er verzweifelt am Tisch saß und das Gesicht in seine Arme vergrub. Die Trauer eines Kindes ist tief.

Eis mit Gesicht essen und ihm beim Schmelzen zusehen. Kindertränen. Salziges Wasser auf der Haut. Jetzt bin ich in Italien, im Urlaub. Gelber Strand. Muscheln sammeln. Abends mit der Familie grillen. Verbrannte Erde. Verbrannte Haut, die nach Schweiß riecht. Frisches Obst essen, Saft, der dir das Gesicht herunter rinnt. Grillen, die zirpen. Glühwürmchen, die leuchten. Abends lange auf bleiben. Mittagsschlaf halten müssen und manchmal wollen. Mückenstich über dem rechten Auge. Dünne, braune Beine, die über verdorrtes Feld laufen. Nackte Füße, die über kalte Steinböden laufen. Der Duft von Kaffee, der einen morgens weckt. Nutellabrot zum Frühstück. Erst die Ecken abbeißen, dann die Mitte essen. Italienische Kinderserien gucken. Nichts verstehen, aber egal. Trotzdem lachen. Sich mit Leuten unterhalten, die man nicht versteht, aber egal, trotzdem lachen – wenn sie einen kitzeln oder in die Nase kneifen. Verwandte kennen lernen, die Gesten machen, die sagen, dass sie einen schon kennen, seitdem man so klein ist. Sich nicht daran erinnern können und diese Info uninteressant finden. Mit italienischen Kindern Fangen spielen, oder Verstecken, oder Ball. Was auch immer. Man rennt einfach hinterher. Schwitzen, träge sein, schläfrig sein. Abends aufgekratzt sein. Kokosnüsse essen. In bunten Karussells fahren. Einem Bettler Geld geben. Jetzt bin ich 13 Jahre alt und in Rom. In der Pubertät und schlecht gelaunt. Ich trage eine Zahnspange und ich habe keine Lust auf diese alte, kaputte Stadt. Was würde ich darum geben, heute nochmal dorthin zu fahren. Immer wieder dasselbe Buch lesen, weil man zu wenige mitgenommen hat. Aber egal, das Buch ist dick und wenn man das Ende erreicht hat, ist der Anfang schon so weit weg, dass erneutes Lesen wieder spannend ist. Zumindest für mich. Meine Mutter versteht es nicht. Aber was soll’s. Die Gespräche der Erwachsenen verstehe ich nicht. Also lese ich. Die Pubertät ist eine schwierige Zeit. Manchmal frage ich mich, ob ich je aus ihr herausgekommen bin. Zumindest aus dem Garten bin ich jetzt gekommen.

Sich von Erwachsenenproblemen den Tag vermiesen lassen. Entscheidungen hinterfragen. Immer wieder Entscheidungen hinterfragen. Sich nie wirklich wohl fühlen. Immer gehetzt sein. Angst haben. Nie wirklich glücklich sein und wenn ja, dann sofort ein schlechtes Gewissen haben. Ausschweifungen nur in Maßen genießen. Kontrolliert sein und sich an seiner Selbstbeherrschung freuen. Dinge erledigen. Den Tag danach ausrichten. Seinen Wert daran messen. Andere zufrieden stellen. Sich absichern. Seine Wohnung putzen. Seine Pflanzen gießen. Mit dem Rauchen aufhören, oder es zumindest versuchen. Es mit Yoga brobieren. Bücher über Selbstfindung lesen. Waldspaziergänge machen. Durchatmen. Einen Moment der Ruhe genießen. Wieder hetzten. Dinge erledigen. Sich an seine Kindheit erinnern. In den Garten zurückgehen. Akzeptanz üben. Den innere Frieden suchen. Meinen ihn gefunden zu haben. Rückschlag erleben. Weiter suchen. Sich verbessern. Stetig voran kommen. Innerlich wachsen. Oder es zu meinen. Zumindest äußerlich, bis zum äußersten Grad. Dann wieder zurück gehen. Wissen, dass nichts ewig währt. Ein Tag nur ein Tag ist. Nicht das ganze Leben. Nichts für immer verloren oder für immer gewonnen ist. Das Blatt sich jederzeit wenden kann. Glück in Unglück schwenkt und wieder zurück. Den Momente genießen lernen. Oder es zumindest versuchen. „Leben im Jetzt“ von Eckhart Tolle lesen und meinen, seine Wahrheit gefunden zu haben. Sich verlieben. Enttäuscht werden. Erwartungen haben. Sich Sicherheit erkaufen wollen. Sex haben. Enttäuscht sein. Erwartungen haben. Sie abstreiten. Einen Roman anfangen. Angst haben, ihn nie zu Ende zu schreiben. Mitlaufen. Sich abgrenzen. Tanzen. Schlafen. Feiern. Nicht aufhören können, zu trinken. Einen Partner suchen. Rastlos sein. Cool und unverwüstlich sein. Einsam sein. Kindlich sein. Vernünftig sein. Professionell sein. Emotional sein. Müde sein. Gespielt sein. Echt sein. Uniformiert sein. Ausbrechen. Zu versuchen, man selbst zu sein. Selbstbeherrscht zu sein. Und dann doch wieder unkontrolliert. Italienisch lernen. Aber nicht mehr nach Italien reisen. Zumindest nicht an die Orte der Kindheit. Sondern nach Mailand. Freunde besuchen. Sich kosmopolitisch fühlen. Aber nicht richtig zu Hause. Und irgendwie auch doch. Die Gerüche sind noch die Gleichen. Der Duft nach verbrannter Erde. Manchmal rieche ich ihn noch. Dann denke ich zurück. Sich abends ins Bett kuscheln. Geborgen sein. Oder einsam. Traurig sein. Angst vor der Dunkelheit haben. Sich wieder fangen. Sich verändern wollen und dann mit der Veränderung überfordert sein. Wände neu streichen. Möbel umstellen. Vielleicht nach der Feng-Shui-Methode? Das Gefühl haben, etwas Großes zu bewirkten. Sich dumm vorkommen. Klein fühlen. Bissig sein. Nett sein. Trotzig sein. Freundlich sein. Großzügig sein. Einen guten Tag haben, einen schlechten Tag haben. Es auf die Hormone schieben. Oder ist es etwas anderes? Sich überfordert fühlen. Gut organisiert sein. Alles im Griff haben. Zu wünschen, dass dieses Gefühl jetzt immer so bleibt.

Dann… und jetzt muss ich raten: Älter werden. Falten bekommen. Über den Tod nachdenken. Resignieren oder akzeptieren? Ruhe haben wollen. In der S Bahn einen Sitzplatz angeboten bekommen und froh darüber sein. In den Garten gehen. Sein Gesicht in die Sonne halten. Tief durchatmen. Zu denken, dass das ein ganzes Leben war. Dass es so angefangen hat und so endet.

Bild: ©Pixabay

 

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