von Annika Kemmeter
Ich beobachte immer die neuen Nachbarskinder im Garten. Der Bub, der Tim, bindet gerade ein Seil an seiner Schaukel fest. Er hat oft ulkige Einfälle. Mal sehen, was er sich heute ausdenkt! Da hüpft auch seine Schwester wieder über die Straße heran. Gut, dass sie diese Spielstraßen eingeführt haben, da passiert nicht mehr so viel. Aha! Gerade versucht sie, ob sie wie ihr großer Bruder über das Tor nach Hause klettern kann. Die Kleine zieht sich hoch. Und dann schnell die Händchen weg. Freilich, obendrauf ist das Holztor aus Metall. Das ist heiß geworden in der Sonne. Jetzt zieht sie ihr Jäckchen aus und wirft es über das Tor. Sie wird es wohl nochmal versuchen.
Wenn das mal gut geht! Sie greift kräftig in den Stoff auf dem Tor. Ich kann mir ihr angestrengtes Gesichtel vorstellen, sie hat dann immer ihre Zunge draußen. Ich sehe es aber nicht, da ist das wackelnde Tor davor.
Na, Mädel, geh doch durch die Tür, wie sich es gehört! Jetzt holt sie den Tret-Traktor, den einer auf der Spielstraße hat stehen lassen. Er soll dem Mädel wohl als Treppchen dienen. Anita oder Agnesa oder Anisa heißt sie. Sie ist ganz entzückend zu ihrem kleinen Brüderchen, ein Säugling ist der noch. Der ist gerade mit der Mutter drinnen. Vorhin habe ich sie in ihrer Küche gesehen. So. Jetzt steigt sie hinauf, auf den Traktor, hält sich oben fest. Dann zieht sie erschrocken die Hand weg. Warum, kann ich nicht sehen, und es geht ja auch alles so rasch! Der Traktor rollt, das Jäckchen rutscht. Ich höre einen Knall. Um Gottes Willen! Durch die Fensterscheibe höre ich ihn! Das war sicher der Kopf auf dem Pflaster! Ich sehen das blaue Kleid durch die Ritzen im Tor schimmern. Ich warte darauf, dass sich noch mal etwas rührt. Warte auf Gebrüll. Aber nichts rührt sich. Niemand brüllt. Ich sehe sie vor mir, wie sie bewegungslos auf dem Weg liegt, mit ihrem Jäckchen im Arm wie ein Lieblingspüppchen. Heiliger Gabriel von der Schmerzhaften Jungfrau, steh dem Mädel bei!
Vor Schreck muss ich einen Schluck trinken. Damit meine Aldi-Orangenlimonade keine Flecken hinterlässt, habe ich eine Serviette auf der Fensterbank liegen. Früher war es ein feines Baumwolltuch mit schönen Hirten-Stickereien. Aber das Waschen fällt mir schwer. Der Rücken will nicht mehr und oh, die Knie … Jedenfalls nehme ich jetzt Servietten, die dann einfach im Mülleimer landen, wenn sie einen kreisrunden Abdruck bekommen haben von meinem Glas oder der Glasflasche. Dann habe ich weniger Arbeit. Den Müll nimmt Gott sei Dank der Schreubert mit.
Weil das Mädel nicht weint, kommt auch niemand. Nur ich, nur ich habe gesehen, was passiert ist. Der große Bub müsste doch mal nach ihr sehen! Schnell, Wägelchen, komm her! Ich schiebe uns zum andern Fenster. Wo ist der denn, ihr großer Bruder? Ich suche seinen braunen Haarschopf. Ich sehe aber nur die schwankende Tellerschaukel. Vielleicht holt er sich noch ein Seil aus dem Haus. Dann müsste er ja gleich zurück sein. Wenn er aber nun drinnen eine Beschäftigung für sich gefunden hat? Ich hebe die Vase von der Fensterbank auf das Wägelchen und versuche die Gardine zur Seite zu schieben, damit ich das Fenster öffnen und rufen kann. Für die Gardine gibt es so einen ungeschickten Stab, der nicht gut funktioniert. Und das Fenster hakt obendrein. Die Eltern sind ohnehin drinnen. Sie haben da immer das Radio an. Ich glaube, die würden mich gar nicht hören. Aber es muss doch einer was machen!
Ich stelle die Vase zurück und schiebe mich und meinen Wagen wieder zu meinem Ausguckfenster. Noch immer blitzt das blaue Kleid durch die Ritzen im Tor. Und immernoch keine Regung. Herrgott nochmal! Wenn meine krummen Beine nur flinker wären! Ich räume Flasche und Glas auf mein Wägelchen und die Serviette dazu. Hier ist die Gardine immer zur Seite geschoben. Ich versuche den Fenstergriff zu erreichen und nach oben zu drücken, aber das ist sehr mühsam und will mir nicht gelingen. Es lüftet bei mir sonst ja immer der Schreubert.
Was nun? Ich schiebe das Wägelchen durch das Wohnzimmer. So, alter Perser, stell dich nicht an! Ich muss mein Wägelchen hochheben, um es über die Kante vom alten Perser zu bekommen. Mensch! Hilf doch mit, alter Perser! Aber nein! Er stellt sich auf. Mein Glas und meine Limoflasche fallen um. Der Deckel war nicht richtig drauf und Limo fließt aus der Flasche auf den alten Perser – das hat er davon! – und auf die Fliesen drumherum. Immerhin ist nichts zu Bruch gegangen. Ich komme zur Haustür. Meine Pantoffeln kleben bei jedem Schritt am Boden fest. Um die Kette zu lösen, muss man einen Haken auf zwei Seiten festhalten und gegen die Tür drücken. Gleichzeitig dann die Kette durch die Öffnung ziehen. Ich schiebe dafür den Wagen weg und lehne mich gegen die Tür. Nun geh schon auf, störrisches Ding! Ich fingere blind an der Kette herum, die Kette ist etwas zu hoch angebracht worden. Aber normalerweise habe ich da meine Methode; es kommt ja immer der Schreubert und bringt meine Einkäufe. Endlich gelingt es mir! Ich muss verschnaufen. Heiliger Salmanus, gib mir die Luft zum Atmen, die dir verwehrt wurde!
Von der Haustür aus geht es sechs Stufen nach unten. Das Wägelchen muss ich oben lassen. Ich bin die Treppen jetzt bestimmt schon drei, vier Monate nicht mehr hinabgestiegen. Zuletzt als ich den Kindern das Osternest gegeben habe. Mein Stock ist da, nur etwas zugesponnen. Ich greife nach ihm. So, Mechthilde! Das schaffst du schon! Jetzt nicht fallen! Bist du bereit? Ich halte mich am Türrahmen fest. „Hilfe!“, rufe ich. Meine Stimme klingt wie ein zarter Harfenton. Ich weiß ja nicht mal, wie die heißen, die neuen Nachbarn. „Hilfe!“ Die Vögel zwitschern viel zu laut. Ich atme tief durch. Die Nachbarn wohnen ja im Eckhaus und ihr Eingang ist nicht in meiner Straße. Mir gegenüber ist nur die Turnhalle. Und da ist heute, am Sonntag, nix los. Wer soll mich denn hören, wenn ich rufe?
Der Stock macht den ersten Schritt nach unten. Mein rechtes Bein folgt. Ich konzentriere mich und spüre, wie meine Hand zittert. Es dauert viele kostbare Minuten und Kraft, bis ich unten ankomme. Und da stehe ich, ohne Wagen. Und ohne Geländer, das mich bis zum Eingangstor begleitet hätte. Nur der Stock. Das Telefon! Ich kann doch einen Krankenwagen rufen! Das Telefon ist freilich oben, im Haus. Mensch, Mechthilde! Du hast es nicht mehr in den Beinen, du musst es im Kopf haben!
Ich drehe mich um und lehne den Stock an das Treppengeländer, halte mich mit zwei Händen daran fest. Eine Fliege fliegt mir gegen den Kopf. Ich wische sie weg, dabei stoße ich gegen den Stock und er fällt neben mir auf den Boden, du liebe Güte! Fast möchte ich aufgeben, aber dann denke ich an das arme Mädel und ihre Familie. Nicht auszudenken! Ich lasse den Stock liegen und ziehe mich mit beiden Händen am Treppengeländer hinauf. Mir ist heiß und ich fühle, dass der Atem wieder nicht richtig in die Lungen dringt. Jetzt aber schnell! Ich packe mein Wägelchen, fahre damit zum Telefon, das kwatschende Geräusch der klebenden Pantoffeln im Ohr. Es ist ein Drahtloses. Und da stehe ich. Wie ein Kalb stehe ich da und sehe das Telefon an. Mir ist die Nummer entfallen. Ich starre auf das Telefon in meiner Hand. Herrgott, das kann doch nicht wahr sein! Was wählt man nochmal? Die Zeiger der Kuckucksuhr ticken die Zeit davon. Dann wähle ich die einzige Nummer, die ich kenne. Schreubert geht ran. Ich erzähle ihm das wichtigste. „Ich rufe sofort den Krankenwagen! Dem Mädchen ist gleich geholfen. Ich lege jetzt auf!“ Ich lasse das Telefon sinken.
Ich schiebe mich zurück zu meinem Ausguck. Durch die Ritzen im Tor sehe ich nicht mehr das blaue Kleid vom Mädel. Die Schaukel steht still. In der Küche sehe ich auch keinen mehr. Sind sie jetzt alle weg? Meine Kraft reicht nicht mehr aus, um Schreubert noch einmal anzurufen. Ich schiebe mich zum Sessel, falle hinein und schließe die Augen. Ich warte auf den Schlaf. Einschlafen. Das ist das einzige, worin ich noch schnell bin.
wow…sehr schön und spannend geschrieben!
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Dankeschön 🙂
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