von Sophia Thomsen
Ein heftiger Regen geht nieder.
Er füllt Unterführungen und spült Schlamm aus den Feldern auf die Straßen, beugt Blätter und drückt das Gras nieder. Scheibenwischer kapitulieren vor den Wassermassen, Scheinwerferlicht kämpft sich durch graue Schlieren, in der Nähe flackert eine rote Neonschrift. Auf dem gekiesten Parkplatz vor Charly’s Trucker Treff bilden sich knietiefe Pfützen. Regen prasselt auf das Blechdach, spritzt von den Fenstersimsen und rinnt über den Putz. In wenigen Minuten ist die Welt wie in Blei getaucht.
Aus dem Radio über dem Ausschank singen die „Blue Diamonds“: Lady Sunshine (tschikitschikitschikitschik) und Mister Moon (dabadabadabadad) können garnichts dagegen tun…
Die Sendung wird für eine Unwetterwarnung unterbrochen – der Speichersee ist über die Ufer getreten und hat bei Neudorf die Umgehungsstraße unterspült.
Wer jetzt bleibt, bleibt zum Morgen.
„Das wird die Frau aus dem See gewesen sein“, sagt ein junger LKW-Fahrer, vor sich ein Bier auf Buchenfurnier. Er stammt wohl aus der Gegend. „Sie findet keine Ruhe.“
Und ein blasser Nachhall meines Namens stört mich auf im Profundal, dort, wohin kein Lichtstrahl dringt. Hier, auf dem Grund des Sees, liege ich ertrunken. Kolonien von Moostierchen wogen in meinen Ohrmuscheln, in meinen Hautfalten haften Nesseltiere. Ich erwache und taste mich durch den samtschwarzen Traum in Richtung der Stimme. Eine Hängeleuchte, die müde Männergesichter anstrahlt, taucht vor mir auf. Ein Raum entsteht in meinem Bewusstsein, wohl eine Gaststätte. Vor den Fenstern geht dichter Regen nieder.
Der LKW-Fahrer fährt fort: „Beim Stausee treffen sich im Sommer die Verliebten. Wenn sie sich auf Luftmatratzen treiben lassen, spüren sie manchmal so einen kleinen Stoß von unten, als würde etwas Großes sie leicht antippen. Und die Betrunkenen, die unbedingt noch nachts ins tiefe Wasser müssen, erzählen später, etwas wäre an ihr Bein gekommen, wie ein Körper, der tief unten durchs Wasser gleitet.“
Mein Blick ruht auf dem Gesicht des Erzählers. Wer bist du? Habe ich dich mal gekannt? Ich bin ihm jetzt so nah, dass mein Atem seine Nasenwurzel streifen müsste, aber er stiert nur stumpf durch mich hindurch, den Blick auf das Glas vor sich geheftet. Ein Bauchhärling lenkt meine Aufmerksamkeit zurück zum Seegrund. Zärtlich vibrieren seine Zilien an meiner Nasenscheidewand, als er seine Eier ablegt.
„Da, wo heute der Speichersee ist, war früher ein Dorf. Nichts Besonderes – ein paar schlichte Häuser, ein Gemeindehaus, eine Kirche. Die Frau war zugezogen, sie und ihr Mann hatten ein Baugrundstück gekauft.“
Vergessene Bilder schlingern zur Oberfläche. Zwei Kinder mit weichem, duftenden Haar. Ich sehe ihre Gesichter im Innenspiegel des Autos, auf dem Weg zum Sportverein. Kinderlachen, das abendliche Bad. Die Fliesen hatte ich selber ausgesucht. Das war mein Haus. Hier sollten unsere Kinder aufwachsen. Ich muss glücklich gewesen sein, damals. Und vor dem Haus der schöne Garten. War da nicht noch etwas? Hatte ich nicht draußen eigenhändig einen Erdkeller gegraben, sogar mit Holzstufen? Es kommt mir vor, als hätte eine Stufe immer geknarzt, wenn ich darauf getreten bin.
Ich wälze mich ächzend in der Dunkelheit, Luftbläschen umspielen meinen bewohnten Leib. Larven setzen sich ab, ich spüre das Strudeln ihrer winzigen Wimpern. Ich wüsste doch zu gerne, wer du bist, junger Mann. Ein kleines, verschwitztes Gesicht auf einem vergangenen Kindergeburtstag?
„Irgendwann haben sich die Pläne eines Stromversorgers herumgesprochen. Dort, wo das Dorf war, sollte ein Speichersee entstehen. Aus dem Dorf taten sich Leute zusammen, zu einer Bürgerinitiative. Die Frau war sehr aktiv. Sie schrieb Briefe, gab Interviews, sammelte Unterschriften, solche Sachen halt. Sie nahm das alles sehr ernst.“
Bruchstücke meiner Vergangenheit lösen sich aus dem Sediment und werden hochgewirbelt – aufgeregte Gespräche in Küchen und Stuben, gerötete Gesichter. Wir haben wütende Transparente gemalt und an der Landstraße aufgehängt. Kisten voller Unterschriften türmten sich im Flur. Ich weiß noch, wie ich von Tür zu Tür gegangen bin, auf die Menschen eingeredet und sie nach und nach überzeugt habe. Ich glaube, wir hatten sogar ein Megafon. Es kommt mir vor, als hätte damals jemand meinen Namen gerufen, immer und immer wieder.
„Mit der Zeit fanden sich die Dorfbewohner damit ab, dass es vorbei war. Dass sie gehen mussten. Für die Alten war es hart, aber man arrangierte sich eben. Nur die Frau wollte nicht aufgeben.“
Jetzt erinnere ich mich plötzlich klar.
Es war bitter gewesen, als meine Mitstreiter wegbrachen. Jeder musste plötzlich gebrechliche Eltern pflegen und Kinder versorgen, auf einmal standen bei allen Ratenzahlungen aus. Da musste dann an die Familie gedacht werden. Und gleichzeitig wurden eifrig Verträge unterschrieben und hintenrum verhandelt, man sicherte sich die Sahneschnitten im neuen Dorf, man verbesserte sich. Zu spät merkte ich, dass sich alle von mir abgewandt hatten.
„Man sagt, es wäre Selbstmord gewesen. Die Frau wollte es nicht akzeptieren. Ihr Engagement schlug in Wahn um, sie schottete sich ab, wies jede Hilfe ab. Muss eine schlimme Geschichte gewesen sein, damals. Meine Mutter hat es mir erzählt, sie waren Freundinnen aus dem Chor. Nach der Sache hat sie noch versucht, Kontakt zu der Frau zu halten, aber auch sie kam nicht mehr an sie ran.“
Ich horche auf. Für einen kurzen Moment war ich abgeschweift. Ein Wels war herangeglitten und hatte mich mit seinen Barteln gestreift. Daher kenne ich also die Glubschaugen. Eine vage Erkenntnis keimt auf.
„Der Ehemann verzweifelte. Die Frau war eingesponnen in ihre Welt, er drang nicht mehr durch. Als es ganz unerträglich wurde, verließ er sie und nahm die Kinder mit. Meine Mutter und er wurden danach noch für einige Zeit ein Paar, aber die Beziehung scheiterte. Er litt wohl unter Schuldgefühlen.“
Was mir gedämmert hatte, wird nun zur Gewissheit. Aus mir schreit es Verrat, seufzend dringt der Ruf aus jeder Körperöffnung, blubbert aus jedem Aalbiss hervor, und torkelt schimmernd nach oben. Mit einem Schmatzen löst sich meine Hüfte aus dem Morast und hinterlässt eine Kuhle, die sich bald wieder mit Bodensatz füllt. Ich straffe mich und spüre, wie es mich aus dem engen Raum ins Freie zieht. Ein kurzer Ruck, als die geborstene Stufe meinen gebrochenen Knöchel freigibt, dann strebe ich bäuchlings durch die Öffnung des Erdkellers der Oberfläche zu.
Ich steige auf.
Ich treibe über die Straßenbiegung vor unserem Haus hinweg, wo sich die Bordsteinkante unter dem Substrat abzeichnet. Mit getrübten Linsen schaue ich in die Nachbarshäuser, die wie aufgebrochene Puppenstuben unter mir liegen. Durch die Stuben schwimmen Schwärme von Rotaugen. Statt der Geranien siedeln Dreikantmuscheln in leeren Fensterhöhlen. Ich betrachte die Chironomiden, die an den Zweigen ertrunkener Obstbäume schwanken wie zarte Goldschmiedearbeiten. Mein Handrücken schleift über die algenbewachsenen Schindeln des Kirchturms, aus dem man die Glocken entfernt hat. Von oben blicke ich auf die Straßen und Gehwege und den gepflasterten Platz vor dem Gemeindehaus.
Das ist mein Dorf, hier wollte ich für immer sein.
Mein Mann hatte damals leichtes Spiel, er arbeitete ja in der Rechtsabteilung einer Versicherung, er kannte sich mit solchen Sachen aus. Ich hatte keine Chance gegen ihn. Er zog mit den Kindern in das neue Dorf, mir blieb nur das Haus. Sie schickten einen Wagen mit Megafon, die Polizisten suchten die gesprengten Häuser noch einmal ab. Meinen Erdkeller haben sie nicht entdeckt. Auch damals war ein sintflutartiger Regen niedergegangen, und der Wasserpegel stieg schneller, als ich erwartet hatte. Ich muss mich wohl noch sehr beeilt haben, an die brüchige Stufe habe ich erst gedacht, als sie unter mir nachgab.
Ich durchstoße die Oberfläche des Sees, rieche den Regen und spüre die Tropfen auf meinem Gesicht. Die Luft ist voller Wasser, die Grenze zu meiner Welt verwischt.
Ich bin frei.
Gespenstisch originell, diese Verknüpfung der Erzähl- und Wirklichkeitsebenen. Macht Spass zu lesen.
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