von Victoria Grader
Vor einem Jahr habe ich beim Baden an der Isar einen Käfer gefunden, der nicht mal ein Zehntel so groß war wie mein Daumennagel. Er krabbelte von rechts nach links über den Nagelrand, den ich auf Höhe meines Gesichts bewegte. Das riesige Auge, vor dem er schwebte, versetzte ihn offensichtlich in Panik: Er zog seine Beinchen unter dem Körper zusammen und versuchte, auch seinen Rüssel unter dem Chitin zu schützen.
„Keine Sorge, Kleiner“, sagte ich und pflückte ein breites Blatt, das ich so an meinen Nagel hielt, dass er problemlos hinüberspazieren konnte. Ich sah dem Mini-Elefanten dabei zu, wie er sich Stück für Stück auf den Sauerampfer schob und hörte ihn dankbar trompeten, als ich ihn zwischen den Grashalmen absetzte. Obwohl ich genau hinsah, war er kurz darauf im Urwald verschwunden.
Wie lang lebt so ein ein-zehntel-daumennagelgroßer Käfer eigentlich? Wochen? Monate? Jahre? Aber warum die Länge seines Lebens mit der meines eigenen vergleichen? Warum die Größe seines Körpers an meinem messen?
Es kommt doch nur darauf an, die Perspektive zu wechseln.