von Annika Kemmeter
Ich kann die Glasmuschel mit einer Hand genau umschließen. Ich habe sie von zu Hause mitgebracht. Meine beste Freundin will nicht mit mir spielen. Ich hänge mich an Mama, aber Mama will zur Arbeit und mich allein zurücklassen. Alles, was ich will, geht nicht. Es ist so schlimm, dass ich weine. Ich will auf Mamas Arm, will von ihr umschlossen werden, wie die Murmel von meiner Hand. Aber sie schiebt mich weg. Ein Erzieher soll mich trösten, aber meine Trauer ist riesengroß. So groß, wie die Entfernung vom Sandkasten bis zum Wipfel des Baumes, der hoch oben den Himmel berührt, unendlich weit weg. Jona kommt und fragt, ob ich mit ihm eine Burg baue. Er hält mir das schönste Förmchen von allen hin, den schönen weißen Schwan. Ich klettere vom Schoß des Erziehers, stecke die aufgewärmte Murmel in meine Hosentasche und nehme den Schwan in die Hand. Meine Finger fühlen die sanften Kurven der Flügel. Ich fülle ihn mit Sand und drücke ihn auf den Boden.
Das Tor des Kindergartens fällt ins Schloss. Ob meine Kleine wohl noch weint? Sie ist so sensibel, aber auch schlau und einfühlsam. Ich bin stolz auf sie. Was wird wohl mal aus ihr? Die Zukunft breitet sich vor ihr aus, eine Unendlichkeit an Zeit. Mutter sein ist für sie ein Spiel, eine Geschichte, eine detailiert ausgemalte Zukunft. Ich spiele mit dem Autoschlüssel in meiner Hand. Denke an meine Zukunft von damals, die bereits Gegenwart geworden ist: Das Hochzeitskleid, in Kindertagen so oft gemalt und neu entworfen, wurde Wirklichkeit. Ich habe die Kinder bekommen, denen ich Gute-Nacht-Geschichten vorlese, einen Beruf, der mich erfüllt, ein Haus mit Garten. Die Träume von damals lebe ich jetzt. Meine Zukunft muss ich neu denken, sie ist ein Buch mit leeren Seiten, von Endlichkeit begrenzt. Irgendwann wird die Unendlichkeit der Zukunft ohne mich weitergehen.
Fest umfasst meine Hand das Etui der Lesebrille. Das Leben rast mit unendlicher Geschwindigkeit. Die Enkel werden schon groß. Jetzt hängen sie an mir, aber wie lange noch? Zehn Jahre? Bis ich in Rente bin, sind sie fast Teenager. Was tue ich dann, aus dem Netz entlassen, in dem ich über Jahrzehnte mit den anderen Fischen ums Leben geschwommen bin? Wer wird mich dann noch brauchen? Wer wird Zeit für mich haben? Ich bin nicht alt, aber mein Leben ist es. Die Zukunft ist der letzte Abschnitt. Wie viele Jahre kann ich noch Skifahren, reisen, mein Leben selbst bestimmen? Also tue ich es jetzt, lebe jetzt, so lange ich jung bin. Schöpfe das Leben, und blende die Zukunft aus, denn sie bedroht meine Leichtigkeit.
Die Enkelin hat angerufen. Sie will heute mit ihren Kindern kommen. Wir haben eine Minute telefoniert. Jetzt ist wieder Ruhe. Ruhe konnte ich lange nicht aushalten. Jetzt ist es anders herum. Als mich die Enkelin mit den Urenkeln besucht, finde ich alle zu laut, zu schnell, sie bringen sich ständig in Gefahr. Ihr Heulen setzt mir mehr zu als früher. Früher: Dass ich ein Kind war, weiß ich noch. Ich habe noch Bilder vor Augen, aber eine Verbindung zu diesem Kind habe ich nicht mehr. Das Leben ist mir dazwischengekommen. Ich nehme es, so lange es dauert. Ich habe keine Pläne, keine Ziele, lebe von der Unendlichkeit meines vergangenen Lebens. Was jetzt noch kommen will, soll kommen. Das Mädchen drückt mir etwas in die Hand. „Guck mal, meine Murmel.“ „Ja“, sage ich. „Nimm sie! Was soll ich mit einer Murmel?“