Zupacken

Von Martin Trappen

Nikolai schloss die Tür seiner Wohnung hinter sich. Er ließ erst seine Tasche und seine Jacke auf den Boden, dann sich selbst auf das klapprige Bett fallen. Die vergangenen Wochen waren nicht leicht gewesen.  Er hatte seinem Vater nach Monaten endlich die Wahrheit gesagt: Er wollte nicht Soldat werden. Damit hatte er seinen Vater  mehr verletzt, als es alle seine alten Kriegswunden je vermocht hatten, das wusste Nikolai, als er den Schmerz in seinem Gesicht erkannt hatte. Sein Bruder Michail war hingegen in die Fußstapfen ihres Vaters getreten.

Nikolai war kein gewöhnlicher Mensch. Er war es nie gewesen. Während manche sich gerne selbst so beschrieben, nutzten andere die Bezeichnung abwertendFür Nikolai war es einfach Tatsache. Als er gerade einmal elf Jahre alt war, hatte er einen Löffel in der Luft schweben lassen. Eine unglaubliche Kraft in Nikolais Innerem hatte es vollbracht. Die Zeit danach hatte er damit verbracht, diesen Kniff noch einmal hinzubekommen. Es war ihm nicht gelungen. Er wollte es seinen Eltern zeigen, und ihnen erklären, was mit ihm los war, doch das Besteck rührte sich nie auch nur einen Zentimeter. Irgendwann schickte ihn sein Vater auf sein Zimmer und sagte, er würde Hausarrest bekommen, wenn er mit diesem Unsinn weiter machte.

Michail hatte ihn betrogen. Sein Bruder hatte den schwebenden Löffel mitangesehen, aber als er ihrem Vater sagen sollte, dass Nikolai sich das alles nicht nur ausgedacht hatte, schwieg Michail. „Verstehst du nicht, Nikolai?“, hatte sein Bruder gesagt, „Es ist gut, dass es nicht noch einmal funktioniert hat. Mama und Papa würden sich nur Sorgen machen und die Nachbarn würden dich für verrückt halten.  Niemand darf das je wissen, verstehst du?“ Nikolai versuchte die Erinnerung abzuschütteln, als er sich von seinem Bett hochstemmte und sich in die Küche schleppte, um etwas zu essen.

Kalte Nudeln vom Vortag. Immerhin füllten sie seinen Magen. Nikolai hatte versucht, sich mit verschiedenen kleinen Jobs durchzuschlagen. Am Ende hatte er Glück: Der Besitzer eines kleinen Kinos, dass vor allem ausländische Filme zeigte, bot ihm Arbeit an. Nikolai kassierte, verkaufte Snacks und Getränke und wechselte die Filmrollen. Er wurde nur kärglich bezahlt, dafür ließ ihn der Besitzer in der kleinen Wohnung über dem Kino wohnen. In der eigentlichen Wohnung war nicht viel mehr Platz als das alte, von Motten zerfressene Bett, ein Stuhl und eine Herdplatte einnahmen. Dazu hatte er noch ein Bad, das nur aus einer schrecklich unbequemen Kloschüssel und einem winzigen Waschbecken bestand. Sich darin jeden Morgen zu waschen, war schon ein kleines Kunststück.

Er stellte den leeren Teller beiseite und widmete sich seinen abendlichen Übungen. Zum Soldaten hatte er es nicht gebracht, aber ihr Vater hatte seinen Söhnen schon früh eingebläut, wie wichtig es war, sich körperlich fit zu halten. Er fing mit einigen Hampelmännern an, arbeitete sich über Kniebeugen und Liegestützen vor und machte schließlich mithilfe der Eisenstange, die er in den Türrahmen zwischen Schlaf- und Wohnzimmer geklemmt hatte, einige Klimmzüge. Schwer atmend ließ er sich auf den Boden sinken. Lange Zeit hatte er die körperliche Ertüchtigung vernachlässigt. Eines Abends drängte sich ihm die Frage auf, ob diese Fähigkeit, die er zum Vorschein bringen wollte, nicht ebenso sehr an seinen Körper wie an seinen Verstand gebunden war. Also machte er ein paar Übungen und schämte sich enorm, als er nach ein paar Liegestützen schon aufgeben musste. Doch er hatte weitergemacht und seitdem sein Pensum Tag für Tag gesteigert.

Nikolai setzte sich in einen Schneidersitz. Stück für Stück verlangsamte er seine Atmung und begann sein zweites Trainingsprogramm. Vor ihm lag der Löffel, denselben, den er einst zum Schweben gebracht hatte. Nikolai streckte seine rechte Hand aus. Er glaubte nicht, dass diese Bewegung wirklich notwendig war, doch sie half ihm, sich zu konzentrieren. Er wusste immer noch nicht, wovon diese Kraft, die in ihm schlummerte, ausging. Er konnte sie spüren. Da war ein Kribbeln in seinen Muskeln, das mit den Liegestützen nichts zu tun hatte. Die Energie floss durch ihn, das wusste er. Doch warum konnte er sie damals hervorbringen und heute nicht mehr? Vielleicht war es der unbelastete Geist eines Kindes, der dieser Kraft nicht im Weg gestanden war. Doch warum hatte er den Trick damals nicht noch einmal ausführen können? War es ihm peinlich, während sein Vater zusah?

Nikolai stöhnte und stand auf. Während sein Kopf so voller Gedanken war, würde er garantiert zu Nichts kommen. Er legte sich ins Bett und versuchte zu schlafen, kam aber nicht zur Ruhe. Er zog sich an und ging vor die Tür, um bei einem Spaziergang seine Gedanken zu zerstreuen. Den Löffel steckte er in seine Jacke. Als er durch die abendlichen Straßen lief, sah er Menschen, die in einem Restaurant zusammensaßen, Pärchen, die Arm in Arm gingen, gute Freunde, die in der Kneipe einen tranken. So verbrachten normale Leute ihre Abende. Wollte er einer von ihnen sein? Konnte er einer von ihnen sein?

Im Englischen Garten setzte er sich auf eine Parkbank. Als Kind war er der Natur immer sehr nah gewesen. Ein Park inmitten einer Großstadt war von den Wäldern seiner Heimat weit entfernt. Aber vielleicht würde sein Verstand hier dennoch zur Ruhe kommen. Nikolai nahm den Löffel aus seiner Jacke und legte ihn vor sich auf den Boden. Er richtete seine ganze Konzentration auf ihn. Er stellte sich vor, er hätte eine dritte, unsichtbare Hand, die er nach dem Löffel ausstreckte. Er spürte, wie Energie durch seinen Körper strömte, die ihn wärmte, als hätte er sich einen dicken Pullover übergestreift. Er spürte, wie ein Funke aus seinen Fingerspitzen bis zum Löffel schoss und ihn in die Luft hob. Nikolai öffnete seine Augen. Mit seinem Verstand befahl er dem Löffel, in seine Hand zu schweben, und so geschah es. Als er seine Finger um das Metall schloss, spürte er etwas, das sich anfühlte, wie ein elektrischer Schlag. Doch es fühlte sich nicht unangenehm an, im Gegenteil. Es fühlte sich genau richtig an.

Plötzlich sah er es deutlich vor Augen: Alles, was er immer schon wollte, war stets zum Greifen nahe gewesen. Er musste nur aufhören nachzudenken und stattdessen zupacken. Sein Schicksal hatte er selbst in der Hand.

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