Mehr Raum

von Sophia Thomsen

Sabine kämpft sich auf dem Bahnsteig durch, zwischen Cortisonkörpern, lärmenden Jugendlichen und Teenagermüttern. Sie würde sich gerne auf die Bank setzen, aber da stehen schon: eine Handtasche und mehrere Einkaufstüten. Die gehören zu einer älteren Frau mit grauer Raspelfrisur und nachgezogenen Augenbrauen. Die Frau hütet einen kleinen gläsernen Couchtisch – bestimmt zu verschenken, Selbstabholung – und wird gehütet von einem Türstehertyp, der vor ihr steht. Das ist dann wohl ihr Sohn. A-beinig in den Bahnsteig gerammt. Puma quer über die Brust, pumpt offensichtlich. Zwischen rasierten Muskelbrüsten baumelt die Mutter Gottes. Stupsnase dem Typen ins Gesicht geklebt. Überhaupt – kein großer Unterschied zwischen vorne und hinten, Gesicht sozusagen Glatze auf links gedreht. Die geöffnete Steppjacke ist gut gestopft, sieht aus wie ein Panzer. Michelinmann in kreischgelb.

Sabine möchte sich wegdrehen und kann es nicht. Sie bleibt an der Glatze kleben und an der goldenen Kette, die den Nacken von den Schultern trennt. Diese Trainingshose, seitlich durchgeknöpft, jetzt unten wie zufällig bis über die Knöchel offen, so dass ein leichter Schlag entsteht. Klobige Turnschuhe, Modell Heldenstatue in Plastik. Sie sprechen polnisch. Vielleicht ist die Frau doch die stolze Oma – mein Enkel hat die Prüfung zum Security bestanden, stellt euch das mal vor, jetzt kann er für eine richtige Firma arbeiten.

Sabine will mit solchen Leuten nicht mehr U-Bahn fahren. Sie hat es schon morgens satt, eingeklemmt im Schlafgeruch der Ingenieure zu stehen. Die Heimfahrt ist schlimmer. Sie will nicht mehr auf Rasierpickel in fremdem Halsrot starren, sie will keine wippenden Muskelpakete an ihrem Bein haben.

Sabine möchte mehr Raum.

Die U-Bahn fährt ein und sie schlüpft noch schnell vor einem Kinderwagen durch die Tür und erwischt ganz hinten im Wagen einen Sitzplatz am Fenster. Da sitzt Sabine dann in einer Wolke aus Rasierwassergeruch. Irgendetwas Aufdringliches, und Tier. Sie muss die Füße einziehen, denn den ganzen Bodenraum belegt ein großer, weißer Hund. Er hat die lange Schnauze auf die Pfoten gelegt und seine Flanke bewegt sich leicht. Die schwarzen Lefzen kräuseln sich zu einem Hundelächeln.

„Darf ich den streicheln?“ fragt ein Junge mit Trainingstasche aus dem Türraum und schlängelt sich durch, als der Besitzer lässig nickt. Überhaupt der – noch so eine breitbeinige Männerskulptur, angesiedelt zwischen innerstädtischem Autorennen und Internetcafe. Der Bart eine messerscharfe Linie am Kieferknochen. Barber shop, Stammkunde. Eine Tätowierung leckt an der Halsschlagader. Granitgewordenes Instagrambild.

Der Junge rutscht in die Hocke und streichelt den geschmeidigen Tierkörper unter dem glänzenden Fell. „So ein lieber Hund “, flüstert er schüchtern, wie jemand der denkt, so etwas müsse man sagen, wenn man fremde Hunde anfasst. Beim Aussteigen zwängt Sabine sich zwischen Hund und Junge hindurch. Kurz schiebt sich eine unschuldige Hundepfote mit den weichen Ballen vor ihren Fuß. Sabine denkt nicht nach und tritt drauf, als wäre es ein Versehen. Der Junge erschrickt, als der Hund panisch jaulend hochfährt und der Mann ruckartig an der Leine reißt. Sabine, schon im Türraum an der Haltestange, blickt triumphierend zurück und fängt noch den Blick des Hundebesitzers auf, den verletzten Blick einer Mutter, deren Kind man etwas zu Leide getan hat.

Photo by Alvaro Matzumura from Pexels

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