Diesen Text auch als Podcast hören!
von Annika Kemmeter
Ein Holzhaus am See. Umgeben von Bäumen, von Libellen umschwirrt. Über dir ein Zwitschern in den Ästen, vor dir raschelt das Schilf, sonst ist Ruhe. Als hätte das Haus seine hölzerne Wand heruntergeklappt, liegt die Veranda vor dem schattigen Raum. Ein Stuhl, ein Tisch und ein Laptop. Kein Netz, kein Radioempfang. Ruhe. Rechts und links verschwimmt der See aus dem Blickfeld. Irgendwo wird sein Ufer sein. Irgendwo, wo es passt. In der Ferne geht das Blau in Grün über, in Gräser, Bäume, Natur. Das Wetter ist lau, die Sonne hinter kaum ziehenden Wolken verborgen. Eine Katze springt auf deinen Schoß, lässt sich streicheln, huscht davon. Kinder gibt es noch keine.
Vor diesem Hintergrund reibt deine Fantasie ihre Hände, aus den Augen sprühen sternförmige Funken. Sie nimmt Anlauf und hüpft aus dem Haus und hinein in schillernde Pfützen, spritzt Regenbogenwasser an Höhlenwände und in Hexenkessel. Sie hat nur einen Gummistiefel an, der andere Fuß färbt sich kunterbunt. Und dort ist schon das Meer, wo Delfine Saltos schlagen und Meerjungfrauen auf Felsen in der Sonne liegen, um sich die grünliche Haut zu bräunen. Die Fantasie rennt mit dem singenden Wind um die Wette, schlägt ihn spielend und wirft sich in die Wellen, der bunte Fuß wird blau, und da! ein Piratenschiff zieht seine Schneisen! Sie schwimmt zum Bug und packt ein Tau. Zieht und zieht sich empor, Fuß um Fuß stößt sich am Rumpf ab, und oben angekommen kämpft sie gegen Hook und John Silver, die Säbel klingen, als säße man bei einem Festmahl, und sie befreit ein heulendes Gespenst, das unter Deck in Ketten gelegt war und fliegt auf seinem Rücken dem Morgen entgegen. Dort, in der Ferne, leuchten orangegolden die Spitztürme eines Schlosses, in dem Prinzessinnen wohnen, die keine Prinzessinnen sein wollen, sondern Polarforscherinnen und Weltenretter. Und sie reiten davon mit wehenden Haaren, treffen auf einen Zirkus, in dem deine Fantasie mit fünf Mäusen und einem Koala jongliert. Die Prinzessinnen stopfen sich Popcorn in die feinen Münder und lachen und deine Fantasie lacht, da reißt ein Seufzen das Bild entzwei. Entzwei den Zirkus, entzwei das Haus am See.
Der Blick auf den Schreibtisch: Rechnungen und Papierflieger, Bücher und Namensetiketten, Druckerkabel und Wasserfarbe. Die Waschmaschine piept. Das Geschirr grummelt über schmelzende Gurkenscheiben vom Frühstück. Hinter dir raufen sich deine Kinder um ein Steckenpferd und eins kommt mit einem Puzzleteil in der Hand und ruft: „Mama, ich brauch Hilfe.“ Und deine Sehnsucht färbt sich violett, presst ihre Lippen aufeinander und wirft der zum Eisblock erstarrten Fantasie einen Blick zu. Sie verstehen sich. Noch einmal seufzt deine Sehnsucht und denkt: Ja, es ist schön, gebraucht zu werden, aber manchmal ist es auch schön, nicht gebraucht zu werden. Kurz flimmert das Haus am See auf, besteht noch Hoffnung?, doch jetzt hältst du schon ein klebriges Puzzleteil in der Hand. Resigniert klappt deine Sehnsucht den Laptop zu und verzieht sich mit deiner Fantasie in den schattigen Raum des Holzhauses. Bis sie wieder rauskönnen, ist es sicherlich morgen Vormittag.
Oh, vielen Dank, Lopadistory! 😀
Und wahrscheinlich bleiben Sehnsucht und Fantasie demnächst noch ein Weilchen länger an ihrem schattigen Plätzchen… Dafür überspült (zumindest) mich das knallige Leben ganz direkt! Man muss dafür nur akzeptieren, den Laptop zuklappen zu müssen.
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Großartig geschrieben. Liebe Grüße Lore
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