Im Grenzgebiet

von Corinna Kulenkamp

Sie waren nicht lange gefahren, als Tigran das Auto zum Stehen brachte. Karine sah einen sanften Anstieg voller vertrockneter Gräser, kniehoch. Ein kleines Wachhaus und Stacheldrahtzaun versperrten den Weg. Dann die Klassifizierung in Schwarz auf Safrangelb: „Militärisches Sperrgebiet“, stand in Großbuchstaben auf dem Schild des Aufklärungsturms. Drei Soldaten kamen aus dem Häuschen auf sie zu. An ihren Schultergurten trug jeder sein Maschinengewehr. Sie näherten sich der langen Holzschranke, die Unbefugten ebenfalls mit reichlich Stacheldraht drohte.

„Wir sind da“, sagte Tigran.

Wenn es Teil ihrer Arbeit war, als NGO-Mitarbeiterin im Sperrgebiet herumzustreunen, dann hätte er sie wenigstens vorwarnen oder fragen können, ob sie das wollte. Doch die militärische Präsenz hinderte Karine daran, mit Tigran eine Diskussion darüber zu beginnen. Inzwischen war sie wachsamer geworden, hatte sich daran gewöhnt, dass jeder verstehen konnte, was sie sagte, so wie auch ihr kaum mehr Geheimnisse in der armenischen Sprache verborgen waren.

„Na los.“ 

Fast erkannte sie ein angedeutetes Lächeln in seinem Gesicht. Karine erwiderte es nicht, stieg aus. Sie gingen auf das Tor zu, die Militärs öffneten es einen Spalt.

„Moment noch, zur Seite treten“, befahlen sie. 

Dann öffneten sie das Tor in ganzer Breite. Ein hellblauer Lastwagen kam ihnen entgegen, hupte und verließ das Sperrgebiet. Die Soldaten winkten, Tigran nickte dem Fahrer zu und hob die Hand.

„Wir haben vorhin telefoniert, nehme ich an“, sagte einer der drei Soldaten.

„Richtig, Hovsepjan mein Name. Wir bleiben nicht lang“, sagte Tigran. Er klang staatsmännisch. 

Ein zweiter Soldat ging zurück ins Haus, holte ein Buch und blätterte darin.

„Und sie“, fragte er Tigran, und nickte mit dem Kopf in Karines Richtung. 

„Karin Hansen. Die Daten habe ich Ihnen durchgegeben.“

„Passport“, bellte der Soldat Karine an.

„Habe ich nicht dabei.“ Karine versteifte die Schultern. Wieso ging er mit ihr nicht so höflich um wie mit Tigran? Weil sie eine Frau war? Oder doch nur, weil Tigran offenbar irgendein Telefonat geführt hatte und in wichtiger Mission kam?

„Sie ist meine Mitarbeiterin aus Deutschland, das geht schon in Ordnung. Ich lege meine Hand für sie ins Feuer.“

„Also gut. Eine Stunde, höchstens“, sagte der erste Soldat etwas freundlicher. Der zweite notierte etwas in seinem Buch. Der dritte wies sie an, das Auto noch vor der Steigung des Hügels stehen zu lassen. Den Rest des Weges müssten sie zu Fuß gehen. Auf keinen Fall sollten sie das Fahrzeug oben parken. 

„Nicht, dass drüben ein falscher Eindruck entsteht“, sagte er entschuldigend.

Karine und Tigran stiegen wieder in den Wagen. Karine war nicht danach, sich mit ihm zu unterhalten. Die ganze Erschöpfung des vergangenen Wochenendes, das flaue Gefühl, dieses Landes überdrüssig zu sein und vielleicht eine falsche Entscheidung getroffen zu haben mit ihrem Umzug nach Armenien, breitete sich wieder in ihr aus. Sie passierten das Tor, einen Aufklärungsturm in grünem Anstrich und stellten ein paar hundert Meter weiter das Auto am Wegesrand ab. Sie stapften den Hügel hoch. Die Luft flimmerte, auch wenn der Nachmittag die schlimmste Hitze des Tages vertrieben hatte. Die paar Schritte strengten Karine an, mühsam unterdrückte sie ein Schnaufen.

„Willkommen im militärischen Sperrgebiet, meine Dame. Vielleicht findest du hier etwas von dem, was du suchst.“

Karine sah ihn entgeistert an. „Was soll das?“

„Was sagst du zu meiner Überraschung?“ Tigran lächelte. „Willkommen in Ani!“ Er klang unbeschwert. „Also gut, willkommen bei Ani.“

Und er führte sie an den Gipfelrand des Hügels. Vor ihnen weite Felder, trockene Wiesen und in der Ferne, unter ihnen: Ani, die Ruinen der königlichen Stadt, Zentrum des alten Armenien, ihre, Karines Wurzeln, da drüben auf der anderen Seite der Grenze, Westarmenien war es mal gewesen, heute gehörte es zur Osttürkei. Verlassen, verfallen, ungeschützt. Zum Steinbruch verkommen. Da stand sie, eine Ansammlung von Ruinen, auch mit bloßem Auge gut erkennbar, umgeben von einer beeindruckenden Schlucht und einem sich romantisch um die Festung schlängelnden Fluss. 

„Das ist der Achurjan“, sagte Tigran. „Er bildet heute die Grenze zwischen beiden Ländern und fließt mitten durch diese Pufferzone.“

Karine spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. 

Er schien keine Antwort zu erwarten.

Es hatte ihm etwas bedeutet, was sie gesagt hatte. Ihre Offenheit war kein Fehler gewesen. Und sie? War sauer gewesen, weil er sie in militärisches Gebiet schleppte. Hatte nicht verstanden. Deswegen also hatte er in Gyumri lange telefoniert. Weil er doch tatsächlich hingehört hatte, als sie ihm auf der Hinfahrt von ihrer dumpfen Suche und den enttäuschten Erwartungen an dieses Land erzählte. Es zerriss sie, wühlte sie auf. Seine Geste. Besonders aber diese Stadt, die Grenze, die Bauten vor ihnen und doch kein Weg dorthin. 

„Siehst du die Kathedrale dort unten? Sie haben exakt die gleiche Kirche in Gyumri gebaut, im 19. Jahrhundert irgendwann, als Erinnerung an Ani. Lange sollen die beiden Kirchen sogar miteinander verbunden gewesen sein, unterirdisch. Manche sagen, das sei noch heute der Fall. Ob das stimmt, weiß ich aber nicht.“ Tigran streckte den Arm aus und deutete in die Ferne. 

Karine suchte. Er kam ein bisschen näher, um ihren Blick in die richtige Richtung zu lenken. Karine folgte seinem Finger. Lauschte seiner Stimme nach und tauchte ein, betrat die Kirche, schwarzer Tuffstein, wie in Gyumri, orangefarbene Verzierungen, natürlich keine Fenster mehr, die Stadt war seit drei Jahrhunderten verlassen.

„Und die Zitadelle, siehst du sie? Die alten Stadtmauern? Oder das, was davon übrig ist?“ 

„Ja!“ Karine ging darauf ein: „Und du, hörst du sie, die alten Bagraduni, die stolzen Könige, und die Bewohner ihrer Stadt? Wie viele waren es noch gleich?“ 

„Es waren 100.000, 100.000 Stimmen höre ich.“ Tigran lachte.

Und Karine hörte sie. Sie sah sie, die Straßen bevölkert, Esel mit schweren Teppichrollen beladen, die Händler, die Gelehrten auf den Straßen, Ani an der Seidenstraße, es war ein Kulturzentrum gewesen über viele, viele Jahrhunderte.

„Da sind sie, deine Wurzeln, Karine“, sagte Tigran: „Und auch meine. Da gab es kein Ihr und kein Wir, kein Ost und kein West. Das waren einfach wir.“

„Und was für ein Gebäude ist das?“ Karine deutete auf einen runden Bau mit einem hohen Turm. Er stach hervor, passte nicht zu den restlichen Ruinen.

„Das“, Tigrans Stimme fiel ab: „Das ist die Moschee. Die hat man hinterher gebaut. Ich lasse dich jetzt mal ein bisschen allein.“ 

Tigran fasste ihr kurz an die Schulter, zog die Hand sofort wieder zurück. Sie spürte seine Bewegung im Nacken, obgleich da keine Berührung war.

„Lass alles in Ruhe auf dich wirken. Aber nimm dir nicht zu viel Zeit, du hast die Soldaten gehört.“

Karine sah ihm nicht nach. Sie setzte sich in das hohe Gras und schaute. In der Ferne flogen ein paar Plastiktüten umher. Eine leichte Brise kam auf. Sie versuchte, den Fluss zu hören, aber er rauschte nicht. Im Hochsommer war das Flussbett fast leer. In ihr rührte sich etwas, etwas, für das sie noch keine Worte hatte, etwas, das sie nicht einmal Jacob würde erklären können, denn auch sie selbst war überrascht. Dass etwas in ihr war, das sie empfänglich machte für diese alte Geschichte, die ein Stück weit auch ihre Geschichte war. Woher das kam, wieso, das konnte sie nicht in Worte fassen. Vielleicht war sie doch armenischer als sie dachte? Was berührte sie daran so sehr? Wie viele europäische Ruinen hatte sie besichtigt, so viele Burgen und Kirchen in all ihren Urlauben und nie hatte sie annähernd so etwas Intensives gespürt. Ihr kamen Tränen, einfach so. Das trockene Gras bohrte sich in ihre Hände. Sie rückte ein Stück. Tigran hatte wortlos eine Tüte für sie hingestellt. Wasser, Lavasch, Tomaten, eine Gurke und Aprikosen darin. Sie drehte sich nach ihm um, aber er hatte sich abgewandt. 

Eingezäuntes Primum movens, abgeschlagen. Schwingt es trotzdem immer weiter? 

Schrieb sie in ihr Notizbuch. Dann legte sie es zurück in die Tasche. Als sie sich erhob, stand Tigran hinter ihr. Laut erscholl der Ruf des Muezzins aus der Türkei herüber. Gemeinsam warteten sie sein Verstummen ab, als wäre es für beide gleichermaßen selbstverständlich, ihren Abschied von Ani nicht von diesem Klang begleiten zu lassen, sondern länger zu verweilen, auszuharren, zu ertragen. Und dann in Stille aufzubrechen.

Werbung

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..