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von Lydia Wünsch
Wenn Ella nachts nach Hause kam, war sie angetrunken und gut gelaunt. Leise vor sich hin summend torkelte sie ins Schlafzimmer. Dabei streifte sie ihre High Heels von den Füßen und ließ sie achtlos liegen. Sie zog sich den Pullover über den Kopf und warf ihn dazu. Dann schälte sie sich – immer noch summend – aus ihrer Strumpfhose. Dies war der schwierigste Teil. Meist verlor sie dabei das Gleichgewicht und stieß irgendwo an. Leise fluchend hüpfte sie weiter, bis sie das Bett erreichte. Immer noch mit einen Bein in der Strumpfhose. Dort ließ sie sich fallen und schälte sich unter leisem Ächzen ganz heraus. Er spürte wie die Matratze unter ihr nachgab. Vollständig entkleidet sprang sie wieder auf, ging zu ihrem Schminktisch gegenüber vom Bett und beugte sich vor, um die Lampe über dem Spiegel anzuknipsen. Während sie ihre Ohrringe ablegte, musterte sie kritisch ihr Gesicht und begann, mit einem feuchten Tuch darüber zu wischen.
Er hatte ihr immer gerne bei diesen Ritualen zugesehen. Dem An- und Ausziehen. Unterschiede wie Tag und Nacht. Das Fertigmachen für eine Verabredung glich einer Meditation. Hochkonzentriert trug sie ihr Make-Up auf. Zunächst mit einer braunen Paste, die sie über das ganze Gesicht verteilte, bis es fast beängstigend eben aussah. Danach folgten die Lippen. Der Mund wurde zu einem breiten Grinsen geöffnet, während sie den Lippenstift auftrug. Immer wieder fuhr sie über dieselbe Stelle, damit das Rot auch in die letzte Lippenfalte hineinkroch. Dann kamen die Augen an die Reihe. Am oberen Lied entlang zog sie einen dünnen, schwarzen Strich, der immer ein wenig über das Ende des Auges hinausragte und zum Schluss nach oben angespitzt wurde. „Katzenaugen“ nannte man das, wie er von ihr erfuhr. Anschließend wurden die Wimpern getuscht. Für diesen Vorgang stellte sie sich auf die Zehnspitzen und beugte sich über den Tisch. Ihr Mund war weit geöffnet, als könne sie sonst nicht atmen. Zwischendurch lehnte sie sich zurück um das Ergebnis zu prüfen. Beim ersten Mal war es nie gut genug. Weitere Schichten wurden aufgelegt. Bis sie die Wimpern für schwarz genug befand. Das Auftragen des Rouges war eine Kunst: zu viel davon und das ganze Gesicht wirkte grotesk. Sie lächelte dabei. „Denn wenn man lächelt“, erklärte sie, „verteilt es sich besser.“ Noch zwei Spritzer Parfüm und dann folgte der Schlussakt. Die Haare, die sie zuvor auf dem Kopf verknotet hatte, wurden nun gelöst und fielen in weichen Wellen ins Gesicht. Die Verwandlung war vollendet.
Sie hatte sich nun fertig abgeschminkt. Nackt kroch sie zu ihm ins Bett, hob seinen schweren Arm, um ihren Kopf darunter zu betten und rieb ihre immer kalte Nase an seiner Brust. Er fragte nie, wo sie gewesen ist und mit wem. Eifersucht zu zeigen war ein Zeichen von Schwäche.