Ein guter Tag

von Lydia Wünsch

Als sie an diesem Morgen aufwachte, wusste sie, dass es ein guter Tag werden würde. Es war der Tag ihrer ersten Lesung, denn sie hatte ein Buch geschrieben. Ausgerechnet sie: das kleine Mädchen vom Land, mit dem rumänischen Papa, der nie richtig deutsch gelernt hatte, und der Oma, die immer so gut nach selbstgemachtem Käse roch und ständig fragte, wie lange Elisa noch zur „Schule“ gehen müsse. Das tat sie selbst dann noch, als Elisa schon lange zur Universität ging. Aber dieser Unterschied war der Oma ziemlich gleichgültig. Für sie war damit nur klar, dass Elisa nicht arbeiten ging und solange sie nicht arbeitete, konnte sie auch nicht heiraten und Kinder bekommen. Solange das nicht geschah, war sie in den Augen ihrer Großmutter auch kein vollständiger Mensch. Als Elisa sich dann nach ihrem Jurastudium ein ganzes Jahr Auszeit nahm, um ihren Roman zu schreiben, statt endlich Geld zu verdienen, war die Verwirrung für die Oma perfekt.

Aber der Erfolg gibt einem letztlich immer Recht und Elisa hatte es geschafft. Sie hatte ihn geschrieben. Den Roman ihres Lebens. Ihre Geschichte. Von den glücklichen Kindheitsjahren, in denen sie mit der gesamten Familie in dem kleinen Bauernhaus mit dem großen, ungepflegten Garten lebte. Alle in einem einzigen, riesigen Raum. Oder kam er ihr nur so groß vor, weil sie selbst noch so klein gewesen war? Denn es waren wenige Quadratmeter, wenn man bedenkt, dass drei Generationen einer Familie darin lebten. Drei Generationen einer lauten, anstrengenden Familie, die immer um einen herum war und sich für alles interessierte, was man machte. Diese Jahre waren geprägt von dem Geruch nach frisch gemähtem Rasen, vom Erdbeerenpflücken und Bohnenschälen. Sie hatte auch von den anderen Jahren geschrieben. Von ihrer Jugend. Dem Umzug nach Deutschland, den Streitereien ihrer Eltern, der Trennung. Der Krankheit der Mutter, der irgendwann nicht mehr zu helfen war. Das waren die schmerzhaften Jahre gewesen. Die Lehrreichen, wie man es positiv ausdrücken könnte. In dieser Zeit ist sie gewachsen. Ist zur Frau geworden. Zu einer, die gelernt hatte für das zu kämpfen, was sie wollte. Sich Ziele zu setzen und diese zu erreichen. Denn wenn man keine Ziele hatte, war das Leben sinnlos.

Sie schrieb auch von ihren Liebschaften, von Trennungsschmerz, neuen Versuchen und den Enttäuschungen. Sie schrieb von ihrer Einsamkeit. Ihrer inneren Leere. Und die Leute fanden es toll! Aus irgendeinem Grund fanden sie es sogar großartig. Dabei war es doch nur ihr Leben. Ihr kleines, banales Leben, um das sie kämpfte. „Sehr tiefsinnig“, hieß es in der Zeitung. „Zwiespältig und so reflektiert“, vor allem, wenn man „zwischen den Zeilen liest.“ Woher sie denn all diese großartigen Ideen nähme, wurde sie gefragt. Eine Frage, auf die sie nur schwer eine Antwort fand. Denn wie konnte sie den Leuten erklären, dass es Tage gab, an denen sie so traurig war, dass sogar eine tote Fliege auf ihrem Fenstersims sie schon zum Weinen brachte? Wie erklären, dass sie an einigen Tagen zu nichts in der Lage war, außer von einem Zimmer zum anderen zu wandern, Gegenstände hin und her zu rücken und zu grübeln, immer wieder über dieselben Dinge zu grübeln und die Bilder ihrer Vergangenheit wieder und wieder hervor zu holen: So sah sie wie der Vater die Hand erhob, sie hörte den rasselnden Atem der Mutter, kurz bevor sie starb. Und während sie so durch das Zimmer wanderte, redete sie in Gedanken – und manchmal auch halblaut vor sich hinmurmelnd – unablässig mit ihrer Familie, die sie immer noch vor ihrem geistigen Auge sah. Sie ließen sie nicht los, hielten sie fest, zerrten und rissen an ihr. Selbst jetzt noch, nachdem sie so viele Jahre zwischen sich und ihre Erinnerungen gebracht hatte, war ihre Vergangenheit präsent, wohin immer Elisa ging.

„Seid doch mal leise!“, rief sie ihnen manchmal zu, wenn alles zu viel wurde und die Stimmen in ihrem Kopf sie übermannten. „Wie soll ich denn einen klaren Gedanken fassen, wenn ihr immerzu auf mich einredet?“

Und irgendwann hatte sie beschlossen, alles aufzuschreiben. Sie wollte ihre Gedanken sortieren, Ordnung schaffen in ihrem Kopf. Alles aus sich heraus schreiben, um endlich frei sein zu können. So entstand der Roman. Das war alles, was sie zu geben hatte. Ihre Geschichte. Sie dachte, sie würde sich frei fühlen, sobald sie alles aufgeschrieben hatte. Manifestiert und eingeschlossen in diesem Buch wären ihre Erinnerungen dann. Etwas Abstraktes, das von nun an nicht mehr zu ihr gehören würde. Doch da hatte sie sich getäuscht. Es war alles noch wie vorher. Der rasselnde Atem ihrer Mutter fuhr ihr zwischen die Schläfen. Ihr Vater starrte sie an, wenn sie in den Badezimmerspiegel blickte und ihre Oma fragte immer noch, wann sie denn endlich einen Mann finden und heiraten würde. Und somit war Elisa weiter gezwungen, in den Räumen auf und ab zu laufen und sich für alles zu rechtfertigen.

Aber heute nicht! Heute ließ ihre Familie sie in Ruhe, als wüsste sie, dass sie Elisa an diesem wichtigen Tag nicht stören durfte. Sie fühlte sich heiter und gelassen. Nur wenn sie zwischendurch an den Abend dachte, überkam sie ein aufgeregtes Kribbeln, wie sie es schon lange nicht mehr gespürt hatte.

Sie badete lange. Danach stellte sie sich vor den Spiegel, um sich zu schminkten. Die Lippen rot. Das Kleid schwarz.

Die Lesung war ein voller Erfolg. Sie bekam viele Komplimente. Sogar Autogramme hatte sie gegeben. Von allen Seiten wurde ihr mitgeteilt, wie bewundernswert sie war, und dass sie noch eine großartige Zukunft vor sich habe. Die Leute wollten wissen, wann ihr zweiter Roman erscheine und ob sie denn schon an etwas Neuem arbeite. Elisa hatte höflich gelächelt und zu allem genickt.

Als sie nach Hause kam, war sie noch immer erfüllt von diesem Abend, den vielen Menschen und den netten Worten. Geld und Erfolg hatte man ihr versprochen. Sie musste sich nur hinsetzen und eine Fortsetzung schreiben.

Sie ging zu ihrem Bett und griff darunter. Was sie hervorholte, war eine Schachtel. Genau genommen war es ihr Schatz. Seit Jahren hatte sie ihn dort versteckt und der bloße Gedanke an ihn hatte ihr Halt gegeben. Hatte sie jede schwere Minute überstehen lassen. Es war eine hübsche Schachtel, mit einem zartrosa Muster darauf. Elisa hatte sie mit kleinen Perlen verziert. Denn ein Schatz gehörte in eine schöne Verpackung. Was sich darin befand, waren Ausschnitte aus ihrem Leben. Bilder, Gedichte, Fotos von ihrer Kindheit und ihren ehemaligen Verehrern. Ihr erster Liebesbrief. Sie hatte alles aufgehoben. Jede wichtige Erinnerung. Bei jeder Zeile, die sie wieder las, jedem Bild, das sie in die Hand nahm, war es, als würde sie in eine andere Zeit versetzt werden. Sie war wieder sechzehn, wieder sechs, wieder zwölf Jahre alt. Immer für einen kurzen Moment. Alles war im Gedächtnis abgespeichert. Bereit dazu, jederzeit hervorgeholt zu werden.

Nichts verlässt einen jemals. Nichts ist für immer verloren. Weder das Schlechte, noch das Gute. Sie sah ein Bild ihrer Großmutter und roch wieder den Duft von selbstgemachtem Käse. Sie schmeckte die würzige Suppe auf ihren Lippen, die sie immer gekocht hatte und sie sah die Wiese vor ihrem alten Haus in Rumänien, aß eine saftige Wassermelone unter der heißen Sonne, küsste ihre Mutter auf die Wange, die sie lachend umarmte und ihr den Sonnenhut zurechtrückte … in dieser Erinnerung waren alle glücklich.

Dann holte sie den letzten Gegenstand aus der Schachtel. Eine kleine Dose mit Schlaftabletten. Nur mit deren Hilfe konnte sie in den letzten Jahren überhaupt noch zur Ruhe kommen. Sie zu nehmen, alleine schon zu wissen, dass sie vor dem Schlafengehen wieder eine nehmen würde, löste regelmäßig Glücksgefühle bei ihr aus. Darum nannte sie die Tabletten auch ihre kleinen Glücksbringer. Fast ein Jahr lang hatte sie nachts wach gelegen, um diese beeindruckende Sammlung zustande zu bringen. Für den großen Tag. Sie wusste nicht genau wann, aber sie wusste, er würde kommen und sie würde spüren, wenn es soweit war. Sie öffnete die Dose und nahm den ersten Glücksbringer, dann den zweiten und den dritten und immer so weiter. Bis sie alle hinuntergeschluckt hatte. Zufrieden ließ sie sich inmitten all ihrer Erinnerungen nieder. Legte sich in ihr Leben hinein, das sie umringte, um sie nie wieder loszulassen.

Ja, heute war ein guter Tag. Der Beste in ihrem ganzen Leben.

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