Früher gab es mal Sterne

von Annika Kemmeter

Früher gab es mal Sterne. Weißt du, was Sterne sind?

Klar! Diese Formen mit fünf Zacken. Die wir an Weihnachten ausgeschnitten haben.

Ja, das sind Sterne. Aber keine richtigen. Früher gab es mal richtige Sterne. Am Himmel. Lach nicht, keine Papiersterne.

Woraus denn dann? Aus Glitzerfolie?

Die hatten auch keine fünf Zacken.

Sechs, dann? Es gibt auch Sterne mit ganz, ganz vielen Zacken. Habe ich auf dem Weihnachtsmarkt gesehen.

Gar keine Zacken.

Dann sind es auch keine Sterne.

Sie haben in der Nacht geleuchtet. Verliebte haben abends draußen gesessen und gewartet, dass die Sonne untergeht, denn dann leuchteten die Sterne. Am ganzen Himmel. Der Himmel war voll davon. Übersäht mit kleinen Lichtern am schwarzen Himmelszelt. Die, die am stärksten geleuchtet haben, bekamen Namen, die jeder kannte. Der Abendstern, zum Beispiel. Und dann hat man sie verbunden wie bei Malen nach Zahlen, bloß ohne Stift. Und in den vielen Punkten Bilder gesehen. Wie den großen Wagen. Und es gab eine Ansammlung mit ganz vielen Sternen, die in einem Band über den Himmel zogen. Das nannte man die Milchstraße.

Milchstraße!?

Ja, und unter diesen Sternen drehte sich die Erde hinweg. Bilder verschwanden hinter dem Horizont, auf der anderen Seite tauchten neue auf. Bis die Sonne wieder aufging und die Sterne am heller werdenden Himmel verblassten.

Wie der Mond?

Wie der Mond. Das sind die echten Sterne gewesen. Jetzt staunst du, was?

Was ist aus ihnen geworden?

Sie haben ihr Licht gelöscht.

Warum denn das?

Wir haben sie nicht mehr beachtet. Wir haben uns unsere eigenen Lichter gebaut, siehst du ja, überall Straßenlaternen, Werbung, beleuchtete Kaufhäuser. Von den Sternen aus betrachtet, sah unsere Erde in der Nacht selbst aus wie eine Kugel voller Sterne. Die hellsten der echten Sterne, strahlten noch einige Jahre weiter, doch als auch sie nicht mehr bewundert wurden, verloschen auch sie.

Wie traurig. Ich wünschte, ich könnte sie sehen.

Ja.

Aber der Mond ist noch da. Der wird nie verschwinden.

Verschwinden wird er nicht. Aber vielleicht knippst auch er sein Licht irgendwann aus. Die Nacht ist nun mal die Nacht. Sie gehört den Gestirnen. Die Menschen sollten schlafen, und wenn sie es nicht tun, sollten sie wenigstens die Sterne bewundern. – Nun knipps dein Nachtlicht aus, mein Schatz. Und schlafe. Und wenn du nicht schläfst, dann betrachte wenigstens den Mond, der so tapfer und magisch in dein Zimmer scheint.

[Dieser Text wurde inspiriert von einem Video, in dem die Lichtverschmutzung thematisiert wurde: http://www.tagesschau.de/inland/lichtverschmutzung-101.html ]

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