Der Listenschreiber

Ich bin im Juni eingezogen, aber der Wohnung sieht man das nicht an. Keine Bilder, kein Teppich, keinerlei Gegenstände, die den Raum in ein Zuhause verwandeln – mit Ausnahme einer Topfpflanze, die mangels eines geeigneten Platzes auf meinem Esstisch steht. Es ist eine Orchidee, mit mehr Ablegern als Blüten. Ich habe sie für den Geburtstag meiner Freundin gekauft. Nur dass sie zu dem Zeitpunkt, an dem ich sie ihr schenken wollte, nicht mehr meine Freundin war.

An Tagen wie heute – vor dem Fenster grau in grau und mehr Arbeit auf dem Tisch, als mir lieb ist – denke ich darüber nach, warum ich so lebe, wie ich lebe.

Zurzeit arbeite ich von zuhause. Ich befinde mich im Zwiespalt, scheitere an der räumlichen Trennung meines Berufs- und Privatlebens. Erholung und purer Stress geben sich in meiner Wohnung die Hand – manchmal treffen sie sich am Frühstückstisch oder auf dem Balkon, an anderen Tagen nimmt der Stress den ganzen Platz ein (und frisst auch noch die Schokolade aus dem Küchenschrank). Die Erholung schafft es abends nur selten zu mir ins Bett. Weckt mich jemand auf und sagt mir, wann ich nicht mehr kann?

Meine Chefin empfiehlt mir, Listen zu schreiben. Das würde beim Strukturieren der eigenen Tagesressourcen helfen. Da und nirgendwo sonst liege mein Problem. Also drücke ich allmorgendlich blaue Mine auf weißes Papier, male Boxen und schwungvolle Überschriften. Ich formuliere meine Aufgaben gerne kleinteilig, damit ich viele Boxen zum Abhaken habe. Das gibt mir ein gutes Gefühl.

Was der Arbeit hilft, ist auch im Privaten von Vorteil, denke ich mir. Ich setze mich an meinen Esstisch, räume den Arbeitslaptop und die dazugehörigen Unterlagen zur Seite und schreibe: Freizeit-Liste. Darauf setze ich Dinge, die ich nur für mich mache. Ich habe viele Pläne:

  • Ausgiebig Sport machen,
  • Bilder für die Wände finden oder gar malen,
  • den Vermieter anrufen, um mich auf die Liste für ein Kellerabteil setzen zu lassen,
  • die Illiad lesen,
  • den Matratzenschoner wechseln,
  • mit einst engen Freunden skypen,
  • das Wetter genießen,
  • einen neuen Gürtel besorgen,
  • Yoga machen,
  • ein vortreffliches Essen für mich selbst kochen,
  • Erholungs-Produkte bei dm kaufen und mich mal wieder richtig selbst verwöhnen.

In der Realität lege ich mich nach getaner Arbeit auf mein Bett, angezogen, und starre in mein Handy. Viel zu spät bekomme ich Hunger, da sind die meisten Läden schon geschlossen. Ich bestelle mir etwas oder schnabuliere Reste aus meinem Kühlschrank. Dann schlafe ich. Am nächsten Tag sage ich mir, ich brauchte den Abend für mich – einfach mal Nichtstun war auch mal nötig. Das habe ich mir mal so richtig gegönnt. Leider fühle ich mich nach so einem Abend nicht erholt. Stattdessen plagt mich ein schlechtes Gewissen. Ich hatte mir doch so viel vorgenommen – für meine freie Zeit.

Ich ergänze Nichtstun im Nachhinein auf meiner Freizeit-Liste, um es dann abhaken zu können. Ein gutes Gefühl gibt es mir nicht.

Ich begreife, dass sich auch die angenehmen Dinge für mich nach Verpflichtungen anfühlen. Also schiebe ich sie auf. Nur nicht noch mehr Stress, denke ich mir, nur nicht noch mehr von dem ganzen Ich-muss-das-machen oder Ich-sollte-mich-darum-kümmern. Nicht noch eine Liste, die ich abarbeiten muss.

Stattdessen schaue ich meiner blütenlosen Orchidee beim Wachsen zu. Ich gieße sie regelmäßig.

Hat dir der Text gefallen? Hier findest du noch mehr Freitagstexte von Alexander Wachter.

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3 Kommentare Gib deinen ab

  1. Lopadistory sagt:

    Warten auf den Transhumanismus? 😉LGLore

    Gefällt 1 Person

    1. Haha vielleicht, wobei sich damit Berufliches von Privatem vermutlich noch schlechter trennen ließe 🤔😅

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