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Nadja erreichte um 9:05 Uhr den Schalter der Sparkasse Beckinghausen. 9 Uhr war die perfekte Zeit. Die meisten ihrer Bekannten aus dem Seniorentreff der Kirchengemeinde gingen eine Stunde eher. Das war ihr aber zu viel Trubel. Alle Rentner der Stadt waren um die Zeit unterwegs und es würde ewig dauern, bis sie an der Reihe wäre. Sie konnte nicht mehr so lange stehen. Um 9 Uhr hatte sich die Lage meistens beruhigt. Die Rentner waren zu den umliegenden Lebensmittelgeschäften weitergezogen, um dort ihre Discountmarken aus dem Lüner Blättchen gegen Rabatte einzutauschen. Auch heute war es so: Schalter Nummer Eins war zwar von einer jungen Dame mit angeleintem Chiwawa besetzt, aber Schalter Nummer Zwei war frei. Der R11 war heute erst um 8:25 Uhr gekommen. Deshalb hatte sie sich verspätet. Sie ärgerte sich nicht darüber. Wie sollte der Fahrer pünktlich sein bei so viel Verkehr auf den Straßen. Überhaupt war es beeindruckend, dass er dieses Ungetüm sicher durch die schmalen Straßen lenken konnte. Die steten Abweichungen vom Fahrplan machten ihr Leben nur komplizierter. Sie musste für alles mehr Zeit einplanen. Weil der Bus manchmal auch zu früh kam, war sie zehn Minuten vor planmäßiger Abfahrt an der Bushaltestelle. Sie hatte deshalb weniger Zeit für den Flurputz, für den Einkauf, für das Kochen. Um 12 Uhr sollte alles fertig sein.
Sie reichte ihre Sparkassenkarte Herrn Hubert und ließ sich die 684 EUR Rente auszahlen, die sie heute, am Monatsende, überwiesen bekommen hatte. Viel war es nicht. Aber es reichte: 380 EUR Miete, ihr Vermieter hatte bisher noch nie erhöht. 150 EUR für Lebensmittel. Viel Appetit hatte sie nicht. 50 EUR für die Geschenke zu Weihnachten und den Geburtstagen. Und 100 EUR, falls mal etwas kaputt ging. Glücklicherweise gehörte sie noch zu den Rentnern, die ihre Rente im Voraus ausgezahlt bekamen. Für März kam das Geld Ende Februar. Ihre Nachbarin war erst seit kurzem Rentnerin. Inge bekam ihre Rente immer erst nachträglich am Monatsende. Für März also Ende März. Wenn sie starb, sparte sich der Staat so eine Zahlung. „684 Euro, Frau Tomova“, sagte der Bankangestellte, nachdem er damit fertig war, das Geld vor ihr zu zählen, und schob Nadja den Bündel Scheine mit den zwei Zwei-Euro-Stücken über den Tresen. Nadja bedankte sich und verstaute die Scheine in ihrer beigefarbenen Handtasche aus Kunstleder. Die beiden Zwei-Euro-Stücke steckte sie in ihre Manteltasche.
Auf dem Weg von der Sparkasse zur Bushaltestelle gab es einen kleinen Kiosk. Fräulein Toteda betrieb ihn seit etwa zehn Jahren. Sie verkaufte gemischte Tüten mit Süßigkeiten, Eis, Zeitschriften, Zigaretten. Sie war Ende Dreißig und noch alleinstehend. Nadja dachte, dass es vielleicht an den Jeans lag, die sie jedes Mal trug, wenn sie sie sah. Ein Rock hätte ihr besser gestanden. Ihr Erich hatte es immer lieber gemocht, wenn Nadja Röcke getragen hatte. Sie sah Fräulein Toteda durch die Scheibe, was bedeutete, dass auch Fräulein Toteda sie vom Kiosk aus sehen konnte. Deshalb schaffte es Nadja nicht, einfach so an ihr vorbeizugehen. Sie trat an die Scheibe, die Fräulein Toteda von innen aufzog.
„Frau Tomova, schön, Sie mal wieder zu sehen. Wie geht es Ihnen?“
„Danke. Man darf nicht klagen. Wie geht es Ihnen?“
„Danke. Heute gibt es viel zu tun. Die neuen Zeitschriften sind in der Früh gekommen. Für Sie das Übliche?“
„Das Übliche“, antwortete Nadja und legte die vier Euro aus ihrer Manteltasche in die kleine Schale vor ihr. Fräulein Toteda gab ihr drei Rubbellose, Die Goldene 7, Super 9 und Das Kleeblatt. „Dann viel Glück und noch einen schönen Tag!“
Der Bus war pünktlich um 10:30 Uhr vor Netto abgefahren. Obwohl Nadja schon zehn Minuten eher bei der Bushaltestelle war, hatte sie noch genug Zeit gehabt, ihre Einkäufe zu erledigen. Sie hatte Zwiebeln gebraucht, Radieschen und saure Sahne. Jetzt ging sie die Treppe zu ihrer Wohnung hoch. Mit den Einkäufen spürte sie ihr Knie mehr als sonst. Links hatte sie ein künstliches Gelenk. Das ging ganz gut. Aber das rechte machte ihr Probleme. Sie schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf, setzte sich auf die niedrige Bank, um ihre Straßenschuhe mit Pantoffeln zu tauschen. Auf der Kommode öffnete sie Erichs alte Zigarrenkiste und legte die drei neuen Rubbellose zu den anderen. Manchmal, wenn ihre Enkelin zu Besuch war, ließ sie sie eins rubbeln. Diansche kam aber nur selten, weshalb die meisten Lose ungerubbelt blieben.