Sie hatte graublaue Augen, spitze Eckzähne und einen feinen Nasenring.
Knallpinke, schulterlange Haare, die selbst von Weitem strohig aussahen.
Als würden sie knistern und knacken, wenn man darüber strich.
Ihre Stimme war grell, ihr Ton fordernd. Alles was sie sagte, klang frech, Berliner Schnauze in Bayern eben.
Mal knallte sie den Hörer aufs Telefon. Nölte: „So ne Flitzpiepe“.
Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie sie es zu mir sagte.
Immer wenn sie an mir vorbeiging, roch es nach Erdbeerkaugummi und Zigarette.
Jedes Mal erstarrte ich, wenn sie genau hinter mir war.
Glotzte auf meine rissigen Fingernägel, als ob es was zu sehen gäbe.
Vergaß sogar, was ich sagen wollte, wenn ich am Hörer war.
Ich blendete das ganze Call-Center aus: Die grelle Deckenleuchte, mein schiefer Drehstuhl, das gekünstelte Lachen von Wagner. Da waren nur noch Erdbeerkaugummi und Zigarette.
Nach einer gemeinsamen Schicht brauchte ich Stunden, um wieder zu mir zu kommen. Manchmal Tage, bis ich wieder klar denken konnte.
Dann überlegte ich mir Sätze, die ich zu ihr sagen würde. Drei bis Vier nach jeder Schicht.
„Boah, ist das ein Wetter draußen.“ (Ginge nur an regnerischen Tagen.)
„Ist das dein Joghurt da im Kühlschrank?“ (Ginge nur, wenn Joghurt im Kühlschrank wäre.)
„Funktioniert dein Tacker?“ (Ginge nur, wenn ich ausgedrucktes Papier da hätte.)
Es gab nur eine Sorte von Sätzen, die immer funktioniert hätten.
„Wagner ist so ein Blender.“ (Keiner mochte Wagner.)
Umso mehr Sätze ich hatte, desto schwieriger kam es mir vor, den Mund zu öffnen.
Also tat ich es nicht.
Warum es mir so schwer fiel, lag auf der Hand.
Wer war ich schon, dass ich mich traute, mit ihr über Wetter, Joghurt oder Tacker zu sprechen?
Was konnte ich ihr bieten, das sie noch nicht wusste?
Ich war mir sicher, dass ich nicht mal schaffte, etwas über Wagner auszusprechen, das sie zum Lachen brachte. Also ließ ich es einfach bleiben.
Ich glotzte auf meine Fingernägel, wünschte mir eine Flitzpiepe zu sein.
Stieg in jede Regenpfütze und beschwerte mich dann doch nicht übers Wetter.
Zählte die Joghurts im Kühlschrank und wenn der Tacker nicht funktionierte, nahm ich eine Büroklammer.
Eines Tages ging sie nicht wie sonst an mir vorbei.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie auf meinen Schreibtisch zu kam.
Ich starrte auf meine Fingernägel, hielt die Luft an, versuchte den immer stärker werdenden Geruch nach Erdbeerkaugummi und Zigarette zu ignorieren. Dann blieb sie stehen. Ich starrte auf ihre Gürtelschnalle.
„Hast du zwei Euro?“, fragte sie.
Mit beiden Händen fuhr ich in die leeren Hosentaschen, meine Nägel kratzen über fusseligen Taschenstoff. Ohne nach oben zu sehen, schüttelte ich den Kopf. Ich streckte die Hand nach meinem Rucksack aus.
„Mist.“ Genervt drehte sie sich weg. Aus meiner Kehle kam irgendwas, womit ich sagen wollte, dass ich weiter suchen würde.
„Hab mein Geld nich‘ ma vergessen, ich hab einfach keins“, murmelte sie. Dann etwas lauter: “Hier wird man eh schon mies bezahlt. Jetzt hab‘ ich auch noch Mieterhöhung, wegen so’nem bescheuerten Sicherheitsdienst im Haus. Als ob der eine Dealer so gefährlich wäre. Zahle über n‘ Hunderter mehr im Monat. Dafür, dass ich nicht mehr in’ Keller gehen kann, um mir mein Dope zu holen.“ Sie ging in die Hocke, kam immer näher. Dann war ihr Gesicht neben meinem. Bis über die Ellenbogen im Rucksack versunken, hielt ich inne. Sie blinzelte. „Mehr Geld, aber keine Drogen“, sagte sie mit finsterer Miene. „Und du? Keine Münze dabei?“ Sie warf mir einen hoffnungslosen Blick zu, den ich am äußeren Rand meines Sichtfeldes zur Kenntnis nahm. Ich schloss meine Augen und öffnete sie wieder. Zwei Sekunden. Nochmal Blinzeln. Und dann hatte ich es kapiert.
Die Erkenntnis traf mich, wie ein Schlag auf die Brust. Endlich konnte ich sie ansehen.
Ihre ganze kesse Aufmache zerbröckelte wie eine eingerissene Fassade. Übrig blieben Splitter, die ich aufheben und zu einem Bild zusammensetzen konnte, das mir jedes Mal ins Gesicht blickte, wenn ich vor dem Spiegel stand. Irgendwas zwischen Versager und Nichtsnutz.
‚Du bist wie ich‘, dachte ich. Und dann holte ich Luft.
„Wagner ist so ein Blender.“
Wow! Was für ein genialer Text!
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