Diesen Text auch als Podcast hören!
von Victoria Grader
In meinem Küchenschrank tobt das Leben. Die beiden Schrankfächer hinter den Holztüren mit den abgenutzten Messingknöpfen bieten Wohnraum für zwei Großfamilien: Die Hausspinnen leben im unteren Schrankfach. Zwei große und mehrere kleine Langbeiner residieren in Netzen, die von der trennenden Schrankwand herunterhängen. Sehen kann man ihre Wohngespinnste nur auf den zweiten Blick. Man muss etwas abwarten, um eine kunstvoll verwobene Netzlandschaft zu erkennen. Die Fäden sind nur fast durchsichtig und wenn man länger davor steht, kann man sogar sehen, wie der Staub glitzert, der an ihnen hängen bleibt. Aber im ersten Moment wirkt es, als würden die Spinnen in der Luft schweben. Zwei Fingerbreit über den Haferflocken, Hirseresten und Gewürzstäubchen, die sich noch in den Verpackungen befinden, welche ich der Mottenfamilie anstandshalber überlassen habe, die eine Etage drüber wohnt. Das Fach, das die Motten besiedeln, hatte ich damals, als ich den Schrank neu ordnen wollte, mit Essig ausgewaschen. Aber den unteren Teil habe ich nicht mehr geschafft und als ich aus dem Urlaub zurück kam, waren sie da. Zuerst saßen die Motten auf den Haferflocken, dann siedelten sie in die obere Etage um, als die Spinnen einzogen.
Heute kleben die Motten verkehrt herum im oberen Küchenfach und bewegen sich nicht, wenn ich die Schranktür öffne. Es sind mal mehr, mal weniger, aber im Schnitt sind es acht, die immer wieder den gefährlichen Flug in die untere Schrank-Etage wagen, wo sie entweder Fressen finden oder am Netz hängen bleiben und gefressen werden. Sagen Sie was Sie wollen: Es war ein geschickter Zug von den Spinnen, sich über der Nahrung der eigenen Nahrung niederzulassen. So halten sich Spinnen und Motten die Balance. Keine Spezies gewinnt überhand. Das ganze funktioniert so gut, dass mein Küchenschrank als eigenes kleines Ökosystem betrachtet werden muss. So seh ich das eben. Mein Küchenschrank ist ein Lebensraum. Warum sollte ich ihn zerstören?
Ich habe die Lebensmittel in der unteren Etage aufgegeben. Ja, ich habe sogar den Küchenschrank aufgegeben. Ich habe meinem Mann gesagt, dass er ihn niemals öffnen und den Staubsauger hier nicht einsetzen darf. Meinem Mann gefällt es nicht, das kleine Ökosystem in unserer Küche.
“Du bist verrückt”, sagt er manchmal und knirscht mit den Zähnen. “Diese Viecher auch noch durchzufüttern. Auf so eine Idee kannst nur du kommen.”
“Die tun uns doch nichts”, sage ich.
“Das sind Schädlinge! Und sie werden immer mehr. Irgendwann kommen sie aus dem Schrank und wir haben Motten, Larven oder Spinnen auf unseren Tellern.”
“Unfug. Sie werden nicht mehr. Das ist ein ökologisches Gleichgewicht, da drinnen. Die Spinnen fressen die Motten, wenn es zu viele sind. Und falls sich mal eine nach draußen verirrt: Dafür haben wir doch diese Gläser mit Schraubverschluss gekauft. In denen ist alles, was wir essen. Die haben nur Zugriff auf unsere Reste. Und wenn sie das ganze Zeug leer gefuttert haben, dann gibt es eben keine Nahrung und auch kein Leben mehr. Das ist Natur. Das regelt sich von allein. Verstehst du?!”
Aber er versteht es nicht. Immer wieder spannt er seinen Kiefer an, wirft nervöse Blicke in die anderen Küchenschränke:
“Ich muss eben kontrollieren, ob sie alles andere auch befallen haben”, erklärt er.
Eines Tages wird er meinen Öko-Schrank ausräuchern, das droht er immer wieder.
“Dann hast du zwei ganze Familien auf dem Gewissen, das weißt du schon?”, ermahne ich ihn.
Nachts murmelt er vor sich hin, im Tiefschlaf. “Scheiß Motten”, knurrt er immer wieder.
Tagsüber sagt er es laut, wenn er die Küche betritt.
Ein bisschen Leid tut er mir schon.
“Du, wenn ich jetzt einen natürlichen Fressfeind der Spinne in das kleine Ökosystem einschleusen würde…”, beginnt er eines Morgens, während er mit unschuldiger Miene in seinem Kaffee rührt.
“Dann würdest du das Ökosystem ja absichtlich durcheinander bringen”, sage ich und sehe von der Zeitung hoch. Deshalb werden mir also diese günstigen Abonnements für Schlupfwespen angeboten, wenn ich über sein Laptop ins Internet gehe. “Aber ein netter Versuch”, ermutige ich ihn.
Im August muss ich für ein paar Tage auf Geschäftsreise. Ich habe ein mulmiges Gefühl, schon Tage vorher. Immer wieder sehe ich, wie er den Küchenschrank ins Visier nimmt, ab und zu sogar hämisch grinst. Er heckt etwas aus, das ist ganz klar.
“Wehe, du fügst meinem Ökosystem Schaden zu”, ermahne ich ihn aus dem Autofenster, als wir uns verabschieden. Immer wieder muss ich an meine Schützlinge denken. Während ich mir beim Frühstück Haferflocken mit Zimt auf den Joghurt kippe, wenn ich Mittags ein Mohnbrötchen verspeise, sogar Abends im Hotel, wenn ich nach dem Pfefferminztee greife. Auf dem Heimweg ist meine Stimmung düster, eine bittere Vorahnung packt mich, als ich das Auto in der Garage parke. Seine Werkzeugkiste steht nicht mehr neben den Winterreifen, sondern auf der Werkbank. Es fehlen zwei Dosen des chemischen Reinigers, den ich ihm bereits am Anfang unserer Ehe verboten habe.
Zielstrebig steuere ich die Küche an, begegne auf dem Gang dem Übeltäter, der gar nicht schuldbewusst aussieht.
“Hallo Liebling, wie war deine Reise?”, fragt er heuchlerisch.
“Super”, antworte ich tonlos, ehe ich in der Küchentür erstarre. Ein Loch klafft über dem Spülbecken. “Wo ist der Küchenschrank?” Obwohl ich meine Augen panisch hin und her bewege, kann ich den Hängeschrank nirgendwo finden.
Ein fieses Grinsen zeichnet sich auf dem Gesicht meines Mannes ab.
“Abmontiert.”
“Wie bitte?”
“Der Schrank steht draußen Schatz. Auf der Terrasse. So hast du dein Ökosystem noch eine Weile und ich meinen Frieden.”
Ich drehe mich um, suche und sehe ihn endlich. Meinen kleinen Lebensraum, gut beschützt und unterdacht, neben unserer Hauswand. “Nagottseidank!”, rufe ich meinem Ehemann zu, während ich erleichtert vors Haus laufe. Kopfschüttelnd sieht er mir zu, wie ich meine Arme um den Küchenschrank auf der Terrasse lege. Vielleicht wird er nie begreifen, warum mir das kleine Schädlings-Domizil so wichtig ist. Solang er respektiert, was ich schätze, ist das ja auch völlig egal.