„Ich möchte fliegen!“, seufzte die Blume. „Ich möchte fliegen, auf dem Rücken eines Adlers, auf dem Teppich eines Dschinns. Ich möchte meine Blätter so rasch auf- und abbewegen, dass ich in den Himmel steige!“
Eine Brieftaube hörte sie, flatterte hinunter und pickte nach einem der unzähligen kleinen Zettel, die sie in ihrer ledernen Umhängetasche mit sich führte. Auf ihm stand: „Warum möchtest du fliegen?“
„Weil mir die Pusteblumen erzählt haben, wie schön es ist“, antwortete die Blume.
Die Taube betrachtete sie. Ihr Stängel war leicht gebogen mit schmalen, dicken Blättern. Ihre Knospe hing enttäuscht herab. Die Taube pickte nach einem weiteren Zettel aus ihrer Tasche: „Was für eine Blume bist du?“, stand darauf.
„Ich weiß es nicht. Ich habe keinen Namen“, antwortete sie und fügte hinzu: „Kannst du mir helfen?“
Die Taube gab ihr einen Zettel: „Ich wünschte, ich könnte dir mein Wörtchen geben, dass auch du eines Tages fliegen wirst.“
„Aber wieso kannst du es denn nicht?“, fragte die Blume.
Diesmal war die Nachricht etwas länger: „Als ich jung war, habe ich zu vielen Leuten mein Wort gegeben. Irgendwann waren einfach keine Wörter mehr übrig. Da bin ich stumm geworden. Mir sind nur die Briefe geblieben.“
Die Blume wusste die Aufrichtigkeit der Taube zu schätzen. Man sollte zwar nicht leichtfertig etwas versprechen und auch nur dann, wenn man es auch halten konnte, aber so lange man eigene Fehler eingestand, konnte man über sich hinauswachsen.
Die Blume und die Taube wurden Freunde. Jeden Tag brachte die Taube mindestens einen Brief. Sie schrieb der Blume darin, wie es war zu fliegen und was sie auf ihren Flügen gesehen hatte. Und die Blume erklärte der Taube im Gegenzug, in welchem Winkel sie nach einem Regen ihre Flügel zur Sonne drehen musste, um am schnellsten wieder zu trocknen. Gleichzeitig hatte sie Mitleid mit der Taube. Stumm zu sein, empfand sie als zu große Strafe für ein paar nicht gehaltene Versprechen.
Je näher der Winter kam, desto wohler fühlte sich die Blume. Die Kälte umhüllte sie auf so angenehme Weise, und der Raureif prickelte auf ihren Blättern. Langsam öffnete sich ihre Knospe und offenbarte eine Blüte wie eine Glocke, die so weiß war wie die Briefe, die die Taube ihr geschrieben hatte. Heimlich hatte die Blume diese in ihrer Knospe aufbewahrt. Die Glocke bewegte sie jetzt sanft hin und her und ließ dabei die Buchstaben wie Samen aus ihrer Blüte auf den Boden fallen. Die Taube flog herbei und gab der Blume einen weiteren Zettel. „Deine Blüte ist wunderschön.“
Die Blume errötete, wodurch sich die weiße Glocke leicht rosa färbte. „Die Buchstaben sind für dich.“
Die Taube pickte sie auf und spürte sofort die Veränderung in ihrer Kehle. Sie räusperte sich und sprach zum ersten Mal nach vielen Jahren: „Das ist das schönste Geschenk, das mir jemals gemacht wurde.“ Dann ergänzte sie: „Von heute an nenne ich dich Briefglöckchen und wo immer ich auch hinfliege, deine Samen werden wie die Pusteblumen mit mir fliegen.“
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