Das Ehrenwort

von Elias Vorpahl

Im Schein einer vereinzelten Kerze betrat das elegante Wort erneut die Bühne. Es hielt ein dickes Buch in Händen. Seine Geschichten waren gut gewesen, dachte ich. In der einen ging es um einen Historiker, der auf der Suche nach seinen Ahnen einen Stammbaum hinaufgeklettert war, von wo er dann nicht mehr herunterkam. Eine andere Geschichte handelte von einem kleinen Prinzen, der Dinge sah, die man nur mit dem Herzen sehen konnte.

Recht, das Publikum gehört ganz dir“, sagte der Gastgeber der Lesung und verließ die Bühne.

Ich richtete meine Augen auf das Wort, das jetzt ganz allein dort oben stand. Mit glasklarer Stimme nannte es den Titel: „Recht.“ Seine Geschichte heißt wie es selbst, dachte ich, und lauschte.

„Ich wuchs in einem Waisenhaus auf. Eine meiner ersten Erinnerungen ist, wie ich in einem großen Saal mit den anderen Kindern spiele. In einer Ecke baue ich eine Mauer aus Bauklötzen, hinter der ich mich verstecke. An meine Eltern erinnere ich mich nicht. Ich war zu jung, als sie starben.

Als ich älter wurde, versteckte ich mich nicht mehr hinter Mauern, sondern hinter Floskeln. Wenn mich einer der Betreuer fragte, was ich gerne täte, antwortete ich schüchtern: „Ich bin ein recht unbedeutendes Wort. Ich würde sagen, dieses und jenes.“

Wenn eines der anderen Kinder vor mir stand und fragte, ob ich sein Freund sein wolle, antwortete ich verlegen: „Ich bin ein recht einfaches Wort. Was willst du mit mir?“

Ich wurde älter und träumte davon, die Welt zu sehen, hatte aber große Angst davor, das Waisenhaus zu verlassen. Ich wollte neue Sprachen lernen, traute mich jedoch nicht so recht, die fremden Worte auszusprechen.“

Recht machte eine kurze Pause, blickte in Gedanken versunken in die Flamme der brennenden Kerze vor ihm. Dann schaute es wieder zum Publikum.

„Im Waisenhaus gab es einen kleinen Leseraum. Dorthin zog ich mich zurück. Ich wusste nicht recht, was ich von meinem Leben zu erwarten hatte. Ich wollte ein Ehrenwort werden, verheiratet, mit Kindern und einem Beruf, mit dem ich die Familie versorgen könnte. Aber ich zweifelte daran, dass mir dieser Weg auch offenstand. Ich war ein recht kurzes  Wort ohne Herkunft und Familie. Was konnte aus mir werden? In den Büchern war das anders. Dort waren es die Waisenkinder, die über sich hinauswuchsen und die gefährlichsten Abenteuer bestanden. Bettler fanden Schätze an verwunschenen Orten, an die sonst niemand mehr glaubte. Und es geschah in den Büchern, dass der Junge, der sonst immer übersehen wurde, trotz krummer Nase und hängenden Schultern das Herz der Prinzessin gewann, weil sie mit Hilfe eines Zaubers durch alle Oberflächlichkeiten hindurch bis in seine Seele blickte, und dort nur Schönheit fand. In diesen Geschichten versteckte ich mich und las alles, was der kleine Leseraum zu bieten hatte. Als ich die meisten Bücher schon gelesen hatte, fing ich an, ungeduldig auf die Spenden zu warten, die jeden Monat aus der Stadt kamen, in der Hoffnung, dass sich unter der Kleidung und den Lebensmitteln auch neue Bücher fanden. Aber es waren nicht nur Abenteuerromane, die ich las. Ich verschlang auch Kriminal- und Liebesromane, Gedichtbände und Sachbücher. Alles, was die monatliche Spendenlieferung in den Leseraum spülte. Die Bücher waren zu meinem Zufluchtsort geworden, und je mehr ich las, desto belesener wurde ich. Nach und nach erschloss sich mir so die Welt. Ich verstand plötzlich Zusammenhänge, die anderen Wörtern verborgen blieben. Zuerst waren es nur die Kinder im Waisenhaus, die zu mir kamen. Obwohl ich noch nie das Meer gesehen hatte, konnte ich ihnen erklären, warum es Ebbe und Flut gab. Und obwohl wir alle Schnee bisher nur in den Bilderbüchern gesehen hatten, konnte ich ihnen erklären, warum Wasser durchsichtig war, der Schnee aber weiß. Das waren aber nur die jüngeren Kinder. Die Älteren kamen zu mir, weil sie meinen Rat suchten. Oft ging es dabei um Streitigkeiten, Eifersucht, enttäuschte Erwartungen oder verweigerte Aufmerksamkeit. Nichts, von dem ich nicht schon in einem Buch gelesen hatte. Stets sagte ich: „Ich bin ein recht kurzes Wort, aber wenn ihr mich fragt, würde ich sagen…“

Es dauerte nicht lange, bis sich auch außerhalb des Waisenhauses herumgesprochen hatte, dass ich bei Auseinandersetzungen helfen konnte. Aus der Stadt kamen zwei Wörter zu mir – die Violine und die Stille. Die beiden waren Nachbarn und tief zerstritten. Als sie vor mir saßen, gab keiner von ihnen einen Ton von sich. So saßen sie stumm nebeneinander, ohne dass mich dies allzu sehr bekümmert hätte. Manchmal brauchen die Dinge Zeit. Dann brach es aus der Violine hervor: „Schau doch mal, wie sie vor sich hin schweigt. Genießt es gerade zu, statt über das Problem zu sprechen.“ Die Stille sagte nichts und die Violine fuhr fort: „Ich muss schließlich üben! Sie beschwert sich, dass es ständig Lärm gibt und sie gar nicht mehr zu sich selbst findet. Was immer das heißen soll. Was soll ich tun?“

Ich erklärte ihnen, was ich in einem Buch gelesen hatte: „Ich bin ein recht kurzes Wort, aber wenn ihr mich fragt, gibt es zu jedem Wort auf unserer Welt ein Gegenwort, das die absolut gegenteilige Bedeutung trägt. Nur durch das Gegenwort bekommt die eigene Bedeutung einen Sinn: ohne den Hass keine Liebe, ohne Kälte keine Wärme, ohne Ferne keine Nähe. Es ist wie im Orchester. Die Violine braucht den Kontrabass und der Kontrabass die Violine. Sonst gibt es kein schönes Konzert. Es kommt dabei aber auf das richtige Timing an. Deshalb ist es gut, dass ihr Nachbarn seid. Die Stille braucht den Lärm. Und der Lärm braucht die Stille. Ihr müsst für euch nur das richtige Timing finden.“ Dies verstand die Violine, und versprach, nur noch tagsüber zu spielen, worauf die Stille zufrieden schwieg.

Immer mehr Wörter kamen zu mir und fragten um meinen Rat. Bei all den Ratschlägen, die ich gab, blieb die Frage nach meinem eigenen Leben offen. Was sollte nur aus mir werden?

Dann, eines Tages, kam ein Monarchfalter mit seiner Verlobten, einer Smaragdlibelle, in das Waisenhaus. Die Leitung des Hauses war ganz aufgebracht. Der Monarch war ein Mitglied der königlichen Familie und die Libelle Tochter des Stadtherrn. Seit Gründung des Hauses hatte es nicht mehr einen solch hohen Besuch gegeben. Der Monarch brachte Geschenke: Steinmetze und Zimmerleute, die die abgeplatzten Wände neu verputzen und die über die Jahrzehnte faulig gewordenen Dachbalken ersetzen sollten. Nicht lange hielt sich der Monarch mit der Leitung des Hauses auf. Er war auf der Suche nach dem Wort, das so gut Ratschläge geben konnte.

Nur kurze Zeit später fand ich mich dem Monarchfalter und seiner Verlobten in ihren prachtvollen Flügelgewändern gegenüberstehen. Als ich die Tür des Leseraums hinter uns verschloss, raunte es mir von außen entgegen: „Berate ihn gut. Das Waisenhaus braucht einen Gönner wie ihn.“

Ich begrüßte die beiden und bat sie, sich zu setzen. Ein Blick des Monarchen reichte, um seine Verlobte aufzufordern mit der Beredung zu beginnen. Die Smaragdlibelle erklärte: „Der Monarch ist zu eigensinnig. Wenn ich etwas tue, was ihm missfällt, wird er wütend und kommandiert mich herum, als wäre ich eine seiner Dienerinnen. Wir sind jetzt ein halbes Jahr lang verlobt. Für mich ist das eine Zeit der Prüfung.“

Das Rot seiner Flügel leuchtete  intensiver, als der Monarch antwortete: „Meine Verlobte glaubt, du könntest ihr einen Rat geben, wie sie besser mit der Situation umgehen kann.“

„Wie ich besser mit der Situation umgehen kann?“, gab die Libelle zurück. „Ich glaube, der Monarch braucht eher einen Rat, wie er mit solchen Situationen umgehen kann.“

„Wir haben genug gehört. Lass jetzt das kurze Wort da sprechen, und das hier hinter uns bringen. Bitte.“ Der Monarch deutete auf mich und schwieg.

Ich dachte an den bröckelnden Putz des Waisenhauses und an die monatlichen Spenden, auf die auch ich angewiesen war. Ich wusste, was der Monarch hören wollte. Ich sollte seiner Verlobten erklären, dass ein erfolgreicher Mann Befehle geben musste, und sie sich glücklich schätzen konnte, mit einem so erfolgreichen Mann, wie er es war, zusammen sein zu dürfen. Aber das wäre nicht die Wahrheit gewesen. Stattdessen sagte ich deshalb: „Ich bin ein recht kurzes Wort, und ich verstehe nicht viel davon, aber wenn ihr mich fragt, muss man in einer Beziehung Kompromisse eingehen wie in einer Demokratie. Wenn die Smaragdlibelle etwas tut, was dem Monarchen missfällt, solltet ihr gemeinsam darüber sprechen. Allerdings auf Augenhöhe. Vielleicht gibt es ja einen guten Grund, warum die Smaragdlibelle es auf diese Weise macht. Wütend zu werden und Befehle zu geben, hilft in einer solchen Situation nicht.“

„Demokratie?!“ Die Flügel des Monarchfalters waren jetzt blutrot. „So etwas lächerliches habe ich mein ganzes Leben noch nicht gehört. Was versteht ein hinterhältig kurzes Wort wie du von Demokratie? Ein Waisenkind, verlassen von seinen eigenen Eltern!“

„Hör sofort auf, ihn zu beleidigen. Du weißt, wer er ist“, sprang die Libelle mir zur Seite.

„Ich zeig euch, was ich von der Demokratie halte.“ Er spannte seine prächtigen Flügel drohend auf. „In den nächsten 100 Jahren wird dieses Waisenhaus kein Mitglied der königlichen Familie mehr zu sehen bekommen. Es wird keine Restaurationsarbeiten geben und die monatlichen Zuwendungen werden um die Hälfte gekürzt!“

„Wenn du das tust, verlasse ich dich!“, rief die Smaragdlibelle.

„Dann verlässt du mich“, antwortete der Monarch, riss die Tür des Leseraums auf und stürzte nach draußen.

Ich fühlte mich schrecklich. „Es tut mir so leid“, sagte ich. „Ich bin ein recht einfaches, kurzes Wort. Ich bin so dumm. Ich habe alles falsch gemacht.“

„Nein. Es ist schon gut. Früher oder später hätte ich mich eh von ihm getrennt. Besser jetzt so als zu spät“, versuchte die Libelle mich zu beruhigen.

„Warum seid ihr überhaupt zu mir gekommen? Ich bin ein recht unbedeutendes Wort. Wie konnte ich nur glauben, ihm die Wahrheit sagen zu können?“

„Du bist nicht unbedeutend“, unterbrach sie mich.

„Ich kenne die Geschichte deiner Eltern. Du bist wie sie: fair, weitsichtig, gerecht. Du bist schon jetzt das, was viele andere sein wollen, aber nie sein werden: Ein Ehrenwort. Du bist das Recht. Und du musst aufpassen, denn du kannst mit dem Leben dafür bezahlen. Genau wie deine Eltern.“

„Meine Eltern?“, fragte ich ungläubig. „Was weißt du über meine Eltern?“

„Du kommst aus einer ehrwürdigen Familie. Dein Vater war Richter dieser Stadt, deine Mutter die Gerechtigkeit. Mein Vater bewunderte deine Eltern. Sie setzten sich für die Schwachen ein und hatten stets nur eine Richtschnur: die Wahrheit. Sie waren gerecht und unbestechlich. Deshalb kommen die Wörter zu dir. Sie merken, dass du genauso bist. Und genau dafür bezahlten deine Eltern mit ihrem Leben. Mein Vater hatte versucht, es zu verhindern. Aber es war vergebens. Er war es, der dich in dieses Waisenhaus gebracht hat. Zumindest dich wollte mein Vater schützen. Niemand sollte wissen, wer du bist.““

Recht verneigte sich.

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