Das Haus ohne Türen

von Arina Molchan

Wir hatten von ihr geträumt, noch bevor sie den Weg zu unserem Haus ohne Türen fand. Wir sahen sie kommen, in ihren staubigen Strohschuhen, mit ihren schwieligen Fersen – wie alle anderen herumziehenden Waisen vor ihr.

Nur ein Weg führte zum Haus, vorbei an dem Feld, auf dem die Erde aufgeworfen war, als hätte jemand dort Gräber geschaufelt und sie dann den Wildblumen, den Disteln und den Weideröschen überlassen. Der Regen hatte die schwarzen Wurzelballen wieder in die Gruben gespült und sie dort verfaulen lassen. Diesen Weg entlang kam sie: unsere Nadjuscha, unsere Hoffnung.

Sie klopfte an den Türrahmen, sie rief hinein in das dunkle Haus. Bevor sie über die Schwelle trat, verharrte ihr Fuß, ganz kurz, als ob sie ahnte, dass es nach diesem Schritt keinen Weg zurück geben wird, denn wir waren hier. Aber noch wusste sie ja nichts von Marfa und Marja, von dem Wind, von der entzweigebrochenen Tür, deren Teile hinter dem Kaminofen lehnten und sich dort die Gusseisenriegel und Angeln wärmten.

„Ist jemand da?“ Nadjuscha rief und wir antworteten ihr, ohne dass sie uns hörte.

Auf dem Tisch standen – für Streuner wie sie – ein Tontöpfchen mit Buchweizenbrei und ein Milchkrug bereit, zugedeckt mit einem Tuch.

Nadjuscha schaute in den hinteren Raum, den mit den vier Betten, bemerkte die gespaltene Tür, rieb sich die Oberarme und setzte sich an den Tisch. Sie wartete fast bis zum Abend, bevor sie sich traute, etwas zu essen. Sie rührte aber nur den Brei an, denn als sie das Tuch hochhob, trieb im Milchrahm ein großer, schwarzer Käfer – die Beine bewegungslos, der Panzer halb im Weiß versunken.

So begegnete Nadjuscha zum ersten Mal dem Wind in dem stillen Haus.

Als Marfa und Marja am Abend vom Wald zum Haus zurückkamen, beide krummgebeugt unter Bündeln von Birkenreisig, kochten sie wortlos für Nadjuscha das Wasser auf, damit sie sich waschen konnte, und bereiteten ihr das vierte Bett vor. Obwohl es ganz zerwühlt war, als hätte darin jemand noch vor Kurzem geschlafen, schüttelten sie aus den Bettlaken tote Fliegen und Motten und bedeckten die schwarzen Flecken auf der Strohmatratze mit einem sauberen Tuch.

Nadjuscha schlief in dieser ersten Nacht unruhig. Sie flüsterte mit geschlossenen Augen vor sich hin, berührte ihre Stirn, ihren Bauch, die rechte und die linke Schulter mit drei Fingern, während neben ihr ein Käfer durch eine Spalte im Fensterrahmen auf den Sims krabbelte. Später verrutschten ihre Decken und ließen Nadjuschas Schultern entblößt. Der Wind strich ihr darüber, küsste ihr den Hals. Und wir sahen zu und konnten nichts tun, außer zu hoffen, dass sie aufwachen würde.

Am Morgen umklammerte Nadjuscha eine Tasse Himbeerblättertee, wärmte ihre Finger und fragte Marfa und Marja, warum es denn keine Türen gebe – es ziehe aus jedem Schlitz, aus jedem Spalt.

„Das ist unser Bruder“, antworteten Marfa und Marja, legten ihre ledrigen Hände in die Schürzen, die Finger ganz krumm von der Arbeit auf dem Feld, und schwiegen.

In der zweiten Nacht saßen wir auf Nadjuschas Bett und wachten über sie. Wir flüsterten ihr unsere Namen ins Ohr, erzählten ihr alles und versuchten, ihr die schweißnassen Haare von den Schläfen zu streichen. Vielleicht würde sie aufwachen, vielleicht würde sie nach uns fragen und uns mitnehmen aus diesem Haus? Der Käfer kroch ihr in dieser Nacht unter die Decke, dort, wo ihr großer Zeh herausschaute. Sie bemerkte ihn nicht und wir konnten nichts tun.

„Es geht der Wind durch die Zimmer“, sagte sie eines Mittags zu Marfa und Marja, als sie gemeinsam am Tisch vor einer Schüssel Buchweizenbrei saßen. Nadjuscha schlotterte da schon am ganzen Körper und ihre Stirn glühte.

„Das ist unser Bruder“, antworteten Marfa und Marja. Dann schwiegen sie, jede für sich. Als die Schüssel leer war, sagte Marfa: „Lass dich nicht von ihm küssen.“

„Er ist unser Liebster“, fügte Marja hinzu.

„Hat der Wind denn einen Mund?“, fragte Nadjuscha, aber sie schwiegen.

Wir ruhten fast jede Nacht unter ihrem Bett und beobachteten die Maden zwischen den Halmen ihrer Strohmatratze. Wir flüsterten zu ihr hoch und wenn Nadjuscha dann aufwachte und ihre Füße von der Bettkante hängen ließ, wickelten wir unsere gelenklosen Finger um ihre Schienbeine und warteten geduldig darauf, dass sie uns bemerkte.

„Warum habt ihr die Türen ausgehängt?“, fragte Nadjuscha eines Abends, als sie zu dritt im schummerigen Licht eines Kienspanholzes warme Milch tranken. Marfa und Marja legten die Hände auf Nadjuschas heiße Stirn, auf ihre Wangen und fühlten.

Sie sahen einander an, seufzten, kauten auf den Lippen ihrer zahnlosen Münder.

„Zum ersten Mal hängten wir die Tür aus, als Mutter starb“, begann Marfa zögerlich.

Wir packten erleichtert Nadjuscha an den Schultern und sie krümmten sich.

„So wie der Brauch es will, betteten wir Mutter darauf und ließen das Haus vier Tage lang offen, damit sie hinaus konnte.“ Marja strich eine Ecke des Tischtuchs zurecht und verknotete dann ihre Finger. „Beim zweiten Mal trugen wir unseren Vater auf der Türe hinaus.“

„Es hatte damals angefangen zu tauen …“, fügte Marja hinzu. Die Milch tropfte ihr durch den Ton – niemand hatte ihnen die Tassen gebrannt.

„ … aber der Boden war noch hart“, sagte Marfa und dann schwiegen sie beide.

„Warum habt ihr die Tür nicht wieder eingehängt?“, fragte Nadjuscha und hustete.

„Hatten wir …“, sagte Marfa und Marja nickte. „Beim dritten Mal betteten wir dann unseren Bruder darauf – .“

„Am vierten Tag trugen wir ihn bis zur Schwelle, aber es war so schwer …“ Beide Frauen seufzten und wir lehnten uns an unsere Hoffnung. Ihr Rücken wurde ganz krumm von unserem Gewicht, aber wir fühlten uns leichter.

„… zu schwer für unsere Hände …“, Marfa legte ihre mit den Innenflächen nach oben auf die Knie. Sie hatte Erde unter den Fingernägeln und Asche vom Ofen in den Hautfalten.

Marja flüsterte: „… da ließen wir ihn fallen und die Tür zerbrach …“

„… es war uns zu schwer. Die Tür war zu schwer.“ Sie flochten ihre Sätze ineinander und wenn die eine nichts mehr sagte, so schwieg auch die andere. Nadjuscha fröstelte und im Schlafraum knarzte ein Bett.

„Er blieb.“ Marfa schloss die Augen und Marja nahm die Hand ihrer Schwester. „Wir ließen uns von ihm küssen“, sagte sie. „Schon immer.“

Wir schlangen Nadjuscha die Hände um den Hals, umarmten sie, drückten ihr die Luft weg. Sie öffnete den Mund, es kam aber nichts heraus.

„Wer wird uns heraustragen, Mädchen?“, fragte Marja und Marfa wischte die Tropfen vom Boden ihrer Tasse.

Wir warteten jede Nacht geduldig an Nadjuschas Bett, wollten ihr mehr erzählen, von allem, was im Haus ohne Türen geschehen war, alles erzählen, wofür Marfa und Marja sich schämten. Wir wollten, dass Nadjuscha uns befreit, uns aus dem Haus trägt, uns zerstreut. Wir hofften, dass sie uns hören würde. Aber der Wind schob ihr die Decke weg, wenn sie im Schlaf ihren Kopf hin und her warf, er küsste ihr den Mund und umarmte ihr die Füße, bis sie blau anliefen.

Ein paar Nächte später verließ uns die Hoffnung. In dieser Nacht kroch Nadjuscha ein großer, schwarzer Käfer über das Haar. Sie hatte aufgehört, fiebrig zu träumen und lag mit aufgerissenen Augen da, ihren Mund leicht geöffnet. Der Käfer betastete ihr die Wangen, schob sich ihr am Kieferknochen entlang. Er wühlte sich zwischen ihre Lippen, unter ihre Zunge und blieb dort.

Wir überließen dem gierigen Wind diesen Körper, die angelaufenen Zehen, die Lippen. Wir gingen im Haus herum, größer, beschwerter, weinten an der gebrochenen Tür, weinten an allen Betten.

Am Morgen des vierten Tages gingen Marfa und Marja auf das Feld vor dem Haus, zu den Disteln und Weideröschen, so wie viele Male zuvor. Wir aber blieben zurück im Dunkel des Hauses – als unausgesprochene Trauer.

 

Bilder: A. Molchan

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