Regen riechen

von Annika Kemmeter

Ich hatte mir unter den englischsprachigen Kursen, die an unserer Uni angeboten wurden, den ausgewählt, der am besten in meinen Stundenplan passte. Es war ein Japanese Linguistics Kurs für Austauschstudenten, die sich genauer mit unserer Sprache befassen wollten. Ich würde also inhaltlich nichts dazu lernen und konnte mich auf die Unterrichtssprache – Englisch – konzentrieren. Wendungen und Tonfälle aufschnappen. Und die mir fremd erscheinenden Ausländer beobachten. Heute erinnere ich mich genau an ein besonders feenartiges Wesen unter ihnen: Es hatte eine lange Nase und einen kleinen Kopf. Seine Haare waren blond und dünn wie Spinnweben, seine Haut weiß. Das Mädchen war überall aufgefallen, im Bus, in der Ramen-Bar, in der Shopping Mall… Nur nicht hier, im Japanese Linguistics Kurs. Denn hier waren die Ausländer versammelt und ich war die Ausnahme – in allem. Die Ausländer meldeten sich, wenn sie eine Frage hatten. Sie verlangten Erklärungen vom Professor. Dieses Mädchen, es schien mir aus einem Purikura-Automaten entsprungen zu sein, wagte sogar, ihm zu widersprechen: „But of course! One can smell the rain, just before it starts raining, you can smell it.“ Es ging eigentlich um Verben der Wahrnehmung. Der Professor lachte überheblich über das Mädchen und schüttelte den Kopf. „No one can smell rain.“ Ich gab ihm natürlich Recht. Im Stillen. Für mich. Wer hätte je davon gehört, dass man Regen riechen kann? Doch dieses Mädchen, es war so überrascht gewesen, dass ihm die Worte ausgegangen waren.

Bis vor kurzem hatte ich die Szene völlig vergessen. Ich wusste nicht einmal, aus welchem Land das Mädchen gekommen war. Amerika oder was Europäisches? Ich aber fand mich ein paar Jahre später in Deutschland wieder, wo ich an einem internationalen Master-Programm teilnahm, und wo ich, wenn ich nicht gerade lernte, in einem Sushi-Restaurant bediente. Der Winter war lang und kalt. Er wollte nicht aufhören. So viel Schnee! Ich sah Mütter ihre Kinder auf Schlitten zur U-Bahn-Station ziehen. Die Deutschen hatten mir Tees gegen Erkältungen gezeigt, die mit unserem grünen Tee, nichts gemein hatten. Tees mit einem absonderlich süßem Geschmack. Ein Stammgast in unserem Restaurant schenkte mir zu Weihnachten flauschige Pantoffeln. Und eine Kommilitonin brachte mir bei, Schals und Mützen zu stricken. Es schneite. Alle Feuchtigkeit aus der Luft wurde in Eiskristallen gesammelt und zu Boden geweht. Die Luft, die übrig blieb, war so trocken, wie der Husten der Menschen. Und dann, als ich dachte, dass hier im Süden des Landes die Jahre zweigeteilt sein mussten, in sogenanntes Biergartenwetter im Sommer und Pistenwetter im Winter, wurde der Himmel dunkelgrau, fast schwarz und es fielen dicke Regentropfen und ich sah den Menschen in die nassen, kalten Gesichter und sah eine Erleichterung, weil der Winter nun vorüber war.

Der Frühling kam und er kam mit solcher Wucht, dass die Deutschen sich an der Sonne verbrannten. Sie hielten sich im Freien auf und versteckten sich dabei nicht mal unter Sonnenschirmen. Sie krempelten Ärmel und Hosenbeine hoch und legten sich auf die Treppen vor ihren Museen. An Strände, an Seen, auf Wiesen in Parks. Die Luft war heiß und dörrte den Boden, bis er zu Staub zerfiel. Der Boden wurde so heiß, dass die Kinder ihre blanken Füße verbrannten und das im Mai. Die Frauen zeigten Nacken und Schultern und Oberarme, es gab fast nirgendwo Klimaanlagen und ich vermisste Zuhause, die klimatisierten Gebäude, kostenlosen Tee und kostenloses Wasser überall für alle. Ich vermisste Automaten mit Eistee, der nichts mit der klebrigen Brühe zu tun hatte, die man hier bisweilen bekam. Ich musste die Deutschen fragen, was man gegen diesen scharfen Schweißgeruch unternahm, der daher kam, dass hier sogar der Schweiß trocknete, wie alles in diesem Land. Man hatte dagegen sogenannte Deos erfunden. Ich vermisste die feuchte Luft, die Tröpfchen darin, die den Staub auf den Boden bannten. In Japan duschte man und war nach dem Abtrocknen wieder nass, nichts trocknete je, alles war im Fluss.

Und dann stand ich an der Bushaltestelle. Wind wehte Pollen über die staubigen Straßen. Blütenblätter fielen von den Bäumen, wie vor wenigen Wochen noch der Schnee. Und plötzlich roch es nach Heimat. Es roch nach Japan, die Erinnerung war so stark, dass ich mich hinsetzen musste, auf die Bank der Bushaltestelle und einfach nur atmete. Ich hatte nicht gewusst, dass Japan einen Geruch hatte. So roch Japan, Kyushu, meine Heimatinsel, und plötzlich verstand ich, wo es herkam. Dicke Tropfen platschten auf den Asphalt und tupften ihn schwarz. Prasselten auf das Dach der Bushaltestelle. Auf den heißen Pflastersteinen sammelten sich Pfützen, die wie kleine Badewannen auf Kinderfüße warteten. Von oben kam warmer Regen, von unten warme Feuchtigkeit, ich stand auf und stellte mich in die fallenden Tropfen, streckte die Arme aus und hob den Kopf zum Himmel. Wasser lief mir in den Kragen. Ich sog Heimat auf, wurde neugeboren. Und da erinnerte ich mich an die Szene. Im Linguistics Kurs. Ja. Man kann Regen riechen. In einem Land, in dem es sonst trocken ist, geht das. Der Regen riecht nach Japan. Doch ein Japaner kann ihn nicht kennen, den Duft nach Regen, den Heimatduft, bis er in die Fremde geht.

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