Zwei Stifte streiten sich über ein Gemälde.
„Diesmal bin ich über mich hinausgewachsen“, sagt der Wachsmaler zufrieden.
„Ich find es, ehrlich gesagt, ganz schön dünn“, antwortet der Bleistift. „Also, metaphorisch. Versteh mich nicht falsch. Das sind alles richtig dicke Linien. Ein intensives Rot. Das schon. Aber wo ist die klare Linie?“
„Die klare Linie?“
„Ja, die Linie, die alles zusammenhält. Die wie mit dem Lineal gezogen ist. Du musst wirklich mehr auf deine Linien achten.“
„Willst du damit sagen, ich sei fett?“, gibt der Wachsmaler zurück. Seine Mine verdunkelt sich.
„Was? Nein! Hörst du mir überhaupt zu? Ich zeig es dir.“ Gekonnt setzt er an und zieht schwarze Linien über das Papier. Bricht nicht ab. Zieht weiter, dreht sich dabei um die eigene Achse, bis er schwer atmend zum Stillstand kommt.
Der Wachsmaler betrachtet das Werk. Feine Linien durchziehen das Bild, treffen in klaren Winkeln aufeinander. Parallele Linien in schmalen Abständen, die hier und da breiter werden, und so Licht und Dunkelheit erzeugen. „Sehr gut“, sagt der Wachsmaler. „Du hast auf jedes Detail geachtet.“ Dann malt er eine dicke dunkelrote Acht auf das Gemälde. In großen Schwüngen fährt er immer wieder die Linie der Acht entlang. Kreis für Kreis für Kreis für Kreis.
„Was soll das?“, ruft der Bleistift.
„Du magst dich für was Besseres halten“, spricht der Wachsmaler, während er seine Kreise zieht. „Für einen großen Künstler! Bleib deinen makellosen Linien treu! Ich bleib meiner Linie treu!“
Der Bleistift blickt auf sein verschandeltes Gemälde und ihm wird bleich um den Stift herum. „Ich muss hier weg. Mir wird das zu bunt.“ sagt er und geht stiften.
„Verdünnisier dich doch, wenn dir meine Kunst gegen den Strich geht“, ruft ihm der Wachsmaler hinterher. Dann malt er weiter seine roten Achten. Achten, Achten, Achten. Und schrumpft einen Zentimeter. Achten, Achten, Achten. Noch einen Zentimeter. Achten, Achten, Achten.
Bis nur noch ein Stummel übrig bleibt.
Ein Stummel und sein Gemälde: „Die Unendlichkeit“