von Victoria Grader
Gegenüber der Mädcheninsel, auf dem Festland von Kadiköy sitzen zwei Männer auf der Steinbrüstung und schauen aufs Meer. Ihre Angelruten sind ausgeworfen und lehnen an der Mauer hinter ihnen. Zafir, der ältere von beiden, hebt die Nase in die Luft, atmet die salzige Brise ein, kneift die Augen zusammen und sucht den Himmel ab.
„Die Vögel fliegen tief.“ Seine Stimme klingt wie Bimsstein auf einem Waschbrett. „Das ist so wegen den Mücken. Dann sind auch die Fische weiter unten.“ Als Hamid antworten will, legt Zafir seinen Finger auf die Lippen. Nach einer Weile sieht er Hamid an und sagt: „Gestern, als du in der Arbeit warst, hab’ ich zwei gefangen.“ Hamid nickt. Wenn sein Vater Fische fängt, macht er Feuer und verspeist die Beute gleich nach dem Fang. „Weil’s frisch am besten schmeckt.“ Und gestern gleich zwei. Er selbst hatte am letzten Abend nur ein paar Löffel Reis vom Mittag. Sein Vater zwinkert ihm zu. Der Sohn antwortet mit Magenknurren. So vergeht eine halbe Stunde, bis endlich die Sonne aufgeht und die ersten Menschen am Pier erscheinen. Es sind nur noch ein paar Stunden, bis hunderte Touristen von der anderen Seite hinübersetzen. Dann hat das Angeln keinen Sinn mehr, die Fische beißen nicht an, wenn es laut und hektisch wird. „Deswegen beißen sie auch nie an, wenn du dabei bist“, hat Zafir mal gesagt. „Du bewegst dich zu schnell. Die Fische spüren das.“ Hamid seufzt leise. Ein paar Männer und eine Frau sind ans Ufer gekommen und haben sich Brote mitgenommen, die sie auswickeln und mit großen Bissen hinunterschlingen.
Plötzlich beginnt die Schnur zu zucken. Zafir stößt Hamid an die Schulter, worauf der Sohn die Angel packt und aus dem Wasser reißt. „Nichts!“, sagt er enttäuscht, als ihm der leere Angelhaken vorm Gesicht baumelt. „Du hättest die Angel ganz langsam aus dem Wasser ziehen sollen. Ein kurzer Ruck im richtigen Augenblick. Und dann langsam und bedacht, damit der Bursche nicht wieder zurück ins Meer fällt.“ Er schlägt sich mit der flachen Hand auf den Schenkel und sieht Hamid dabei vorwurfsvoll an. Dann seufzt er und sagt in versöhnlichem Ton: „Jetzt nimm ein neues Stück Brot und versuch es nochmal.“ Hamid nickt, pult ein Stück Weißbrot vom Laib in der Plastiktüte ab, befestigt es an der Angel und macht sich daran sie wieder auszuwerfen. Jetzt wo einige Menschen um sie herum stehen, hat er Angst, einen von ihnen zu treffen. Er holt weit aus, zielt und versenkt seine Angel am richtigen Fleck. Nach dem gelungenen Wurf lehnt er die Angelroute wieder gegen die Mauer und wendet sich dem Meer zu. Wortlos lauschen die beiden Männer den Wellen, die an der Steinbrüstung brechen. Dann wird Zafir aufmerksam.
„He. Schau mal, Hamid, der Junge da hinten.“
Der Sohn sieht sich den mageren kleinen Kerl an. In lauernder Haltung hockt er am anderen Seite der Promenade und sieht neugierig herüber. Seine Haut ist dunkel, die abstehenden Ohren umrahmen sein spitzes Gesicht, ‚fast wie Fledermausflügel‘, denkt Hamid.
„Ob er es auf das Brot abgesehen hat?“, fragt Hamid seinen Vater leise.
„Der sieht nicht aus, wie einer von hier“, meint Zafir. „Schau ihn dir mal genauer an. Zu feine Gesichtszüge und eine komische Kopfform hat er auch.“ Hamid nickt. Während sie über ihn sprechen, sehen sie zwar in die Ferne, werfen dem Jungen aber immer wieder Blicke aus den Augenwinkeln zu. Es wirkt, als würde er die Ohren spitzen.
„He, du.“ Zafir dreht sich ruckartig um. „Junge, komm mal her.“ Der Junge erhebt sich langsam aus der Hocke, wischt sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Erst als er näher kommt, sehen sie, dass er nicht von der Sonne, sondern vor Schmutz schwarz geworden ist. Seine Kleidung ist zerschlissen und die Beine voller Kratzer. „Was machst du hier, ganz alleine am Bosporus?“, fragt Zafir und der Junge zuckt die Schultern.
„Wo kommst du her?“, fragt Zafir und zieht seine buschigen Augenbrauen hoch.
Der Kleine stemmt die Hände in die Seiten.
„Geht dich nichts an!“ Seine Stimme verrät, dass er älter ist, als er aussieht.
„Also ein Zigeuner!“, sagt Zafir und bricht in Gelächter aus, in das Hamid schließlich einstimmt.
Im Gesicht des Jungen ist nichts zu lesen. Er legt den Kopf schief und tritt den Rückzug an, um sich wieder an seinen ursprünglichen Ort hinzukauern, unauffällig wie eine Straßenkatze.
„Ich hab doch gesagt, dass er es aufs Brot abgesehen hat!“
Hamids Blick streift die Brottüte. Und erstmal bleibt er daran hängen. Etwas später ist das Magenknurren besiegt. ‚Wenn der Hunger stark ist, versucht der Magen ihn zu ignorieren‘, denkt Hamid. Da sieht er den Jungen heranpirschen. Er hockt sich in die Nähe, wenn auch etwas weiter weg als zuvor. Hamid versucht, ein freundliches Gesicht zu machen und winkt ihn herüber. „Wir geben dir etwas ab, wenn wir einen fangen…“
„Wir haben aber nichts gefangen“, sagt Zafir und sieht Hamid missbilligend an. „Von mir bekommt er nichts.“ Hamid überlegt kurz. Vielleicht hat auch der Vater Hunger?
„Wieso verschwendest du eigentlich immer wieder das Brot, wenn du doch keinen Fisch fängst?“, ruft der Junge herüber. Seine Hände sind vor der Brust verschränkt, er hockt in lauernder Haltung neben der Mauer.
„Gestern hat er zwei gefangen“, erwidert Hamid schnell.
„Hat er nicht.“
Zafir kneift die Augenbrauen zusammen.
„Keinen einzigen hat er gefangen, und das seitdem ich hier bin.“
„Verschwinde!“ knurrt Zafir.
„Wie lang bist du schon hier?“, fragt er den Jungen.
„Seit mindestens zwei Wochen. Jeden Tag weicht er eine Tüte Brot im Meer auf.“
„Du bist doch nicht ganz dicht!“, schreit Zafir. Aber der Junge zuckt nur mit den Schultern. Dann sagt er an Hamid gewandt: „Wenn du mir nicht glaubst – gut. Aber wenn du nur ein bisschen daran zweifelst, was der alte Mann sagt, dann versuch es morgen mal mit Fliegen oder Würmern.“
Hamid starrt ausdruckslos vor sich hin. Sein Magen knurrt wieder.
„Zieh ab!“, schreit Zafir, der nun aufsteht und versucht dem Jungen einen Tritt zu verpassen. Der faucht und flieht ins Gebüsch.
Am nächsten Tag bringt Hamid einen Eimer voll Erde mit. Er hat tief gegraben, um an die feuchte Schicht zu gelangen. Da sind nämlich die Würmer drinnen. Zafir hat den Eimer gesehen, aber nicht gefragt was drinnen ist. Er öffnet die Tüte mit dem Brot, pult nach und nach Stücke ab, schiebt sie auf den Angelhaken. Hamid tut es ihm gleich. Alles ist wie immer, die Luft ist salzig, der Boden wird nach und nach wärmer, der Magen knurrt, kein Fisch beißt an. Nachdem das Brot vollständig im Wasser gelandet ist, hebt Hamid den Eimer hoch.
„Lass es uns jetzt mit den Würmern versuchen.“ Von Zafir erntet er einen beleidigten Blick. Hamid greift in die Erde und tastet mit den Fingern, bis er einen zappelnden Wurm erwischt hat. Er versucht, sich aus seinem Griff zu winden, ist glatt, aber immerhin nicht glitschig. „Hier“, sagt Hamid und hält Zafir den Wurm hin. Sein Vater sieht angeekelt weg. „Na gut, dann mach ich es eben selber.“
Er zieht den Angelhaken aus dem Wasser, der Wurm schlängelt sich in Hamids Handmulde um die eigene Achse. Er nimmt den blitzenden Haken in die andere Hand. Jetzt muss er ihn durch den Wurm schlagen, die Spitze durch den weichen, zuckenden Wurmkörper schieben. Fast kann er das Pulsieren des Wurmherzes in seiner Hand spüren. Oder hat ein Wurm gar kein Herz? Auf jeden Fall ist da Blut, das durch seinen langen glatten Körper fließt. Das fühlt Hamid in seiner Handfläche. Er wirft einen fragenden Blick zu seinem Vater, der sich die Hände auf die Augen presst. So ist das also. Hamid lässt seine Hand sinken, legt den Wurm zurück in den Kübel, beobachtet wie er sich windet und in der feuchten Erde verschwindet.
„Wie hättest du eigentlich die Fische getötet?“, fragt Hamid nach einer Weile. „Hättest du sie überhaupt vom Haken ziehen können?“
Der Vater schweigt, starrt in die tiefblauen Wellen.
Als sie ihre Sachen zusammenpacken, nimmt Hamid alles, außer seine Angel und den Eimer. „Ich lasse Angel und Köder hier“, erklärt er seinem Vater. „Vielleicht solltest du das auch tun. Lassen wir das Werkzeug für die, die genug Hunger haben, um sich ihre Beute wahrhaftig zu erlegen.“ Mit einem müden Lächeln nickt er in Richtung der Mauer, hinter der ein spitzes Ohr hervorblitzt.
Aber Zafir nimmt die Angel mit, schwingt sie sich auf den Rücken, wie eine Peitsche.
‚Morgen werde ich früh genug aufstehen, um das Brot zu essen‘, denkt sich Hamid, als er hinter seinem Vater über die trockenen Wiesen wandert, vorbei an Hügeln und Steinen.
„Du wirst schon sehen“, sagt Zafir. „Morgen komme ich mit Fisch nach Hause.“
Schöne Geschichte 🌊🌼
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