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von Verena Ullmann
Das Muster auf der Tapete in seinem Kinderzimmer erzählte ihm von seinem früheren Leben. Ebenso seine Träume von prächtigen Kirchen und Kathedralen (ein Wort, dass er damals noch nicht kannte), sowie die flackernde Neonröhre vor der Apothekentür. Überall fand er Zeichen – oder sie fanden ihn – und legten Erinnerungen in ihm frei, die er nicht haben konnte. Erinnerungen an Orte, an denen er nie war und an Menschen, die er nicht kannte. Beim Ausflug zu einer halb verfallenen Burg, wurde ihm plötzlich ganz schwer ums Herz. In einem Wald beim Pilzesuchen musste er unvermittelt weinen. Seine Eltern schoben es mal auf die Höhe, mal auf seine Müdigkeit und wünschten sich, er wäre etwas belastbarer. Einmal fiel ihm sogar eine Melodie ein, die er bis heute nicht zuordnen kann. Vielleicht hast du das Lied mal im Radio gehört, meinte seine Mutter nur und hörte ihm nicht einmal richtig zu, als er es ihr vorsummte.
Besonders viele Zeichen kreuzten seinen Weg, wenn er sich besondere Mühe gab mit Zeit und Raum: Im ganzen Haus nur auf jede zweite Fliese steigen (eine Schwierigkeit: die direkt vor der Kloschüssel war nie dabei), jeden Tag zur selben Uhrzeit ein Kästchen auf einem karierten Blatt ankreuzen, Nudeln im Viervierteltakt essen und weitere Rituale, die sich spielerisch in seinen Alltag integrieren ließen.
Ihn ärgerte es sehr, seine vorherigen Namen vergessen zu haben. Besonders den letzten. Den letzten hätte er sich doch merken können, um nicht wieder von ganz vorne anfangen zu müssen! Er war erst acht Jahre am Leben. Also musste er zwischen den Leben entweder sehr lange Zeit tot gewesen sein, was er nicht glaubte (, denn wo sollten denn alle warten auf das nächste Leben und vor allem, was sollten sie denn tun in der Zwischenzeit, wenn nicht leben?) Oder sein Gedächtnis war einfach nicht gut genug.
Er ging also von letzterem aus und beschloss, seine aktuelle Identität in den nächsten paar Leben zu behalten. Für längere Zeit ging er früher ins Bett als üblich und sprach seinen vollständigen Namen, um ihn sich für das nächste Leben einzuprägen. Einzubrennen. Damit er ihm auch sicher einfiele, sobald er wieder sprechen lernte. Jede Nacht vor dem Einschlafen wiederholte er diese Übung, um auf den Tod vorbereitet zu sein. Und natürlich für den unwahrscheinlichen Fall, gleich in dieser Nacht nicht mehr aufzuwachen (morgen früh, wenn Gott will etc., kann ja sein, dass nicht). Er war sich sicher, dass er zum Sterben nichts bräuchte, als die Erinnerung an seinen jetzigen Namen. Einfach damit er nicht verloren ginge. Seine zukünftigen Eltern könnten ihn also nennen, wie sie wollten. Irgendwann würde er ihnen schon sagen, wer er ist. Genauso hätte er es auch mit den Eltern in diesem Leben schon machen können, wäre sein Gedächtnis nur nicht so schlecht gewesen. Aber er hatte ja nur diese diffusen Erinnerungen, die sie nicht überzeugen würden. Mit einem Namen wäre das anders, so glaubte er. Dann könnte er vielleicht beweisen, dass es ihn schon einmal gegeben hatte, dass es ihn immer noch gibt, und dass es ihn immer geben wird.
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