Endstation

von Victoria Grader

Surren überall, ein bisschen so, als wäre ich im Elektrofachhandel. Tatsächlich aber stehe ich auf einer Brücke kurz vor der Endstation – genauer gesagt, auf den S-Bahngleisen – und breite meine Arme aus. Warte und friere.

Ein weihrauchartiger Verbrennungsgeruch liegt in der Luft. Doch das ist vielleicht nur Einbildung, wie wahrscheinlich auch das Surren. Bald werde ich aufhören, darüber nachzudenken, ob die Dinge wirklich da sind, die ich höre, rieche oder sehe. Ich atme ein und schließe die Augen, um die letzten Sekunden meines Daseins auszufaden. Plötzlich raschelt es hinter mir. Ohne es zu wollen, drehe ich den Kopf und sehe, dass sich ein roter Anorak vom Trampelpfad durch das Loch im Zaun quetscht.

Ich schaue mir den Typ, der im Anorak steckt, genauer an: ‚Klein‘, ‚dick‘ und ‚aufgekratzt‘ sind die ersten drei Worte, die mir einfallen.

Er sitzt fest, hechelt nach Luft und versucht sich verzweifelt von den Maschen zu befreien, an denen seine Jacke verhakt ist. Ich bin mir sicher, dass er mich noch nicht gesehen hat. Eigentlich könnte ich abhauen. Aber ich bleibe stehen, bis er sich befreit hat und räuspere mich dann. Seine Augen sind weit, der Mund steht offen.

„Hab nicht erwartet, jemand hier um diese Uhrzeit zu treffen“, gurgelt er außer Atem und ich nicke.

„Jo. Ich auch nicht.“

Er kratzt sich am Kopf.

„Und nu’?“

Schulterzucken meinerseits.

„Biste ins Zweifeln gekommen?“, fragt er mich und verzieht den Mund zu einer Grimasse, die ich wohl als Grinsen interpretieren soll.

„Nö.“ Ich deute mit dem Kinn in Richtung der Gleise. „Warte noch auf den Zug.“

Zuerst macht er ein Geräusch – so eine Art Hustenlachen, bei dem ich den Schleim aus seiner Lunge in den Mund schwappen höre.

Dann kommt er schwerfällig näher.

„Da kannste lang warten. Stromausfall. Musste mit dem Auto herkommen.“

„Egal. Irgendwann wird sich die Bahn wieder bewegen. Zu viele kleine Idioten müssen in die Arbeit.“

Ich habe Lust, auf den Boden zu spucken. Aber warum eigentlich? Weil mir ein Anderer dabei zusieht?

„Ich werde springen“, sagt er entschlossen.

‚Sein Anorak hat Rillen, er sieht aus wie eine Ochsenherz-Tomate’, denke ich und wünsche ihm: „Gutes Gelingen.“ Dann drehe ich mich um.

„Wie oft hast du es schon versucht?“, fragt er mich.

„Das ist das erste und das letzte Mal“, antworte ich, ohne mich umzudrehen. „Du?“

„Viermal.“ Er schluckt. „Bräuchte vielleicht dieses Mal ’nen kleinen Schubs.“

Ich stelle mir das schiefe Gesicht vor, das er jetzt gerade macht.

Auch dieser Typ ist wahrscheinlich gar nicht da. Trotzdem kann ich ihn einfach nicht ignorieren.

„Deswegen warte ich auf den Zug.“

„Hmmm“, macht er und steht auf einmal neben mir.

„Vielleicht versuch ich es heute mal auf deine Art. Hast du was dagegen, wenn ich hierbleibe und mir dir…“ Er stockt.

„…auf den Zug warte?“

Als Antwort nuschelt er mir irgendwas zu.

„Mir egal“, sage ich und meine es auch. Lasse meine Augen wieder zufallen. Versuche, die Welt weiter auszufaden.

„Bist du wirklich da?“, frage ich ihn.

„Vielleicht.“ Sein schiefes Vollmondgesicht hängt in der Dunkelheit meiner Vorstellung.

„Magst du Tomaten?“

„Eher nicht.“

Ich nicke. Dann sagt er:

„Aber ich mag Ketchup.“

Wir prusten beide los. Dann hustet er wieder und die ernste Stille kommt zurück.

„Denkst du, dass ich nur eine Einbildung von dir bin?“, fragt er mich irgendwann.

Erstmal sage ich gar nichts. Ach, was soll’s.

„Das mit den Einbildungen ist so eine Sache…“, fange ich an.

Vielleicht ist das Letzte, was ich tue, zu diesem Fremden ehrlich zu sein. Aber anstatt weiter auszuholen, sage ich:

„Was ist schon wirklich da?“

„Die Unterhaltsleistungen an meine Ex-Frau?“

Wieder dieses Geräusch.

„Hörst du das?“, frage ich ihn.

„Kommt der Zug?“ Ich bemerke die Aufregung in seiner Stimme. Schüttle den Kopf.

„Ne.“

Wir reden aneinander vorbei. Es ist, wie jedes andere Gespräch, das ich in meinem Leben geführt habe: Ab einem gewissen Punkt versagen alle Worte und einvernehmliches Schweigen wäre ehrlicher. Also schweigen wir. Einvernehmlich.

Bis er sagt: „Farben sind ja eigentlich auch gar nicht da.“

Und ich freue ich mich, weil er mich verstanden hat.

Dann, irgendwo – nah oder in der Ferne – pfeift ein Zug.

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