Tilos Jacke

von Verena Ullmann

Maren fuhr mit ihren Augen jeden Quadratzentimeter von Tilos Rücken ab. Wie jeden Tag, jede Unterrichtsstunde. Sie erahnte die weiche, helle Haut unter dem grau-melierten T-Shirt-Stoff.

„Nun berechnen wir die Flächen von Figur drei. Mirko, kommst du bitte nach vorne?“, sagte Frau Kramer. Irgendwo links vorne rutschte, begleitet von einem leisen „Oh fuck“, ein Stuhl zurück. Aber Maren sah nur Tilo, der sich mit den Fingern über seine kurzgeschorenen Haare fuhr. Einmal diese Finger halten! Sie legte unter dem Tisch ihre Handflächen aufeinander, schloss die Augen, lächelte kurz.

Alles, was er für sie war, war er nur in ihrer Vorstellung. In ihrem Kopf lief bereits die zweite Staffel ihrer gemeinsamen Serie. Die ersten Dates, Früchtebecher „Amore“ für zwei in der Eisdiele, der erste Kuss im Mondschein auf Claras Party, wie sie Hand in Hand den Schulflur entlanggingen, die Blicke und das Getuschel ihrer Freunde, die erste Nacht in seinem Zimmer. Auch seine Eltern schätzte sie sehr. Vornehme Leute in einem geräumigen Stadthaus. Möglicherweise hatte er eine schöne, ältere Schwester, die Maren einige ihrer Kleider überließ, wenn sie in den Semesterferien nach Hause kam. „Steht dir sowieso besser als mir“, würde sie sagen und ihre langen, blonden Haare nach hinten werfen. Tilo und Maren würden nur selten streiten. Dann würde sich der Himmel verdunkeln und schwerer Regen auf den Asphalt prasseln. Sie würden wie in Zeitlupe aufeinander zulaufen, er würde ihr die klatschnassen Strähnen aus ihrem Gesicht streichen, es in beide Hände nehmen und sie küssen. Das Happy End ließ Marens Bewusstsein wieder in ihrer Mathestunde auftauchen, wo sie nach Luft schnappte und eifrig die Aufgabe abschrieb. Aber nur kurz. Dann verselbstständigte sich ihr kleines Geheimnis wieder: Sie stellte sich vor, sie und Tilo wären ganz allein im Klassenzimmer. Sie würde jetzt einfach zu ihm gehen, sich auf seinen Schoß setzen, die Arme um seinen Hals schlingen und ihre Stirn an seine legen. Als hätte sie so etwas schon einmal gemacht. Sie wünschte sich, die Wirklichkeit wäre nicht ganze zwei Jahre hinterher, die nicht aufholbar schienen. Diese kleine Fläche dort in seinem Nacken berühren. A mal b. Jedes Härchen abtasten.

Maren nahm wieder ihren Kugelschreiber in die Hand und schrieb die Zahlen und Buchstaben von der Tafel ab, die ihr heute wie Hieroglyphen vorkamen. Nichts hatte Bedeutung. Irgendwelche Menschen saßen jeden Tag zur selben Zeit in irgendeinem Gebäude und redeten irgendetwas. Aber das Schicksal hatte ihn ihr direkt vor die Nase gesetzt. Sie musste irgendetwas tun. Tilo, kritzelte sie heimlich in ihr Hausaufgabenheft. Tilo Tilo Tilo. Tilo Berger. Maren Berger. Tilo und Maren Berger. Dann übermalte sie es wieder, bevor es ihre Banknachbarin Chaja sah. Tilo füllte ihr ganzes Blickfeld aus. Alles, was zu ihm gehörte, analysierte sie, archivierte sie, plante sie für die nächsten Folgen ihrer Serie ein. Der neue Aufnäher auf dem Rucksack, die ausgewaschene, schwarze Sweatjacke, von der sie wusste, wo jede Naht verlief, der Bund seiner Unterhose, über der Jeans, den sie sah, wenn er sich streckte. Maren zog die Ärmel ihres Pullis über ihre Hände. War ihre Kleidung zu bunt? Oder ihre Bewegungen nicht lässig genug neben ihm? War sie vielleicht zu dick? Klang ihre Stimme zu nervös? Letzte Woche hatte er einen Bleistift fallen gelassen. Sie war nicht vorbereitet gewesen, war nur erstarrt und hatte zugesehen, wie er ihn selbst aufhob, anstatt den Stift mit ihrem Fuß zu sich zu ziehen und ihn ihm zurückzugeben. Gebückt hatte er sich zurück zu seinem Tisch gedreht, ohne sie wahrzunehmen. Als wäre eine Scheibe zwischen ihnen, die von seiner Seite verspiegelt war.

„Und nun ziehen wir noch die Oberfläche des Zylinders ab. Lilli, übernimmst du das?“ Maren zuckte zusammen. Vor zwei Wochen war Lilli einfach Lilli gewesen. Aber am Projekttag hatte Tilo Lilli seine Sweatjacke geliehen, weil ihr kalt gewesen war. Sie hatte sie getragen, als wäre es ihre eigene und Maren hatte aufgehört zu atmen. Die Sweatjacke, die Maren so gut kannte, die innen Tilos Haut berührt hatte. Wie gut sie nach ihm riechen musste! Als Lilli die Jacke Stunden später wieder zurückgegeben hatte, blieb bei Maren ein Gefühl von Panik zurück, das bis heute anhielt: Wenn Lilli sich bewegte, fühlte es sich an, als hätte man ein Raubtier aus dem Käfig gelassen. Marens Blick hetzte zwischen Lilli und Tilo hin und her, fand nichts und beruhigte sich wieder. Sie sah eher unscheinbar aus, wie sie nun da an der Tafel stand mit ihren durchgestreckten Zahnstocherbeinen. Tilo drehte einen Bleistift zwischen seinen Fingern. Falls er ihn nun fallen lassen würde, sie wäre bereit.

Es läutete zur Pause. Maren nutzte die Unruhe, die sich sogleich durchs Klassenzimmer wälzte, um jede von Tilos Bewegungen in sich aufzunehmen: So stand er auf, so schob er seinen Rucksack mit dem Fuß zur Seite, so scherzte er mit Lukas, so griff er seine Wasserflasche und ging nach draußen, feine Muskeln an den Unterarmen, leichte Schritte, ein tiefes Lachen. Sie und Chaja gingen wie immer zuerst auf die Toilette, bevor sie den anderen nach draußen folgten, wobei ihre Freundin gut doppelt so lange brauchte.

„Mathe ist so ein Scheiß!“, hörte sie sie aus ihrer Kabine schimpfen, während Maren vorm Spiegel stand und sich ausgiebig betrachtete.

„Mhm.“ Sie dachte an Frau Kramer, an Tilo und wieder an Frau Kramer und versuchte festzustellen, wie sich ihr Gesicht dabei veränderte. Man sah es ihr nicht an! Sie war so heftig verliebt, aber sah so aus wie immer. Verrückt.

„Oh Mist … Kannst du mir fünf Euro leihen?“, fragte Chaja.

„Ja, aber muss ich schnell holen.“

„Ok, ich warte hier.“

Maren ging zurück ins verlassene Klassenzimmer und holte die zehn Euro, die sie für den Notfall in ihrem Mäppchen versteckt hatte. Dann sah sie Tilos schwarze Sweatjacke über der Stuhllehne hängen und konnte nicht widerstehen. Sie nahm sie, drehte sich um, roch daran und dachte, sie würde sterben. Dann stopfte sie sie ganz unten in ihre Tasche und lief zurück zu Chaja.

Zwei Wochen hatte Maren Tilos Jacke bei sich im Zimmer versteckt. Ihre Mutter durfte sie auf keinen Fall sehen! Ihre Freundinnen natürlich auch nicht. Einmal hätten sie sie fast unter ihrem Kopfkissen gefunden. Wenn sie die Jacke herausholte, sperrte sie nun vorsichtshalber immer die Tür ab. Sie malte mit ihrem Kugelschreiber ein kleines Herz auf das Etikett. Sie legte sich mit der Jacke auf ihr Bett und träumte. Schmiegte sich an den Stoff, legte einen Ärmel um sich und war für einen kurzen Augenblick glücklich. Ob er seine Jacke vermisste? Vielleicht glaubte er, sie einfach verloren zu haben. Er zog jetzt immer die graue an, die fast genauso aussah. Irgendwann roch die Jacke immer weniger nach Tilo und immer mehr nach dem Weichspülergeruch ihrer Bettwäsche. Wenn Maren die Jacke an sich drückte, blieben die Glücksgefühle aus. Statt eines Kribbelns im Bauch, spürte sie einen Schmerz in der Brust, der sie daran erinnerte, dass er nicht da war. Er dachte nicht einmal an sie, nicht eine Sekunde. Sie wusste noch nicht einmal, ob er überhaupt eine Schwester hatte. Maren schämte sich, die Jacke mitgenommen zu haben und wollte sie nun wieder loswerden. Eine Woche schleppte sie sie vergeblich mit sich herum. Es ergab sich einfach keine Gelegenheit. Ständig klebte Chaja an ihr, jemand anderes war im Klassenzimmer oder Tilo war krank. Schließlich schaffte sie es: Die Jacke hing wieder dort, wo sie hingehörte, über der Stuhllehne direkt vor ihr.

Erst als Chaja sich neben sie setzte, fiel Maren das Etikett wieder ein. Oh nein! Das Herz! Warum hat sie die Jacke nicht einfach entsorgt? Und vielleicht riecht die Jacke jetzt nach ihr. Wie peinlich. Ihre Ohren gingen zu.

„Alles ok?“, fragte Chaja, „Siehst so blass aus.“

„Ja, ja. Mir ist nur ein bisschen schwindelig.“

„Willst du rausgehen? Lass uns rausgehen! Ich wollte eh … “.

„Nein! Geht schon.“

„Sicher?“

„Jahaa. Sicher.“

Tilo betrat das Klassenzimmer, sah die Jacke, stutzte kurz, nahm sie in die Hand und runzelte die Stirn.

„Hä?!“, sagte er, kaum hörbar, entdeckte dann das kleine Herz und riss seine Augen auf. Maren versuchte wegzusehen, als sie spürte, wie ihr Gesicht die Farbe von Weiß auf Rot wechselte. In dieser Folge ihrer Serie würde er sich nun suchend umsehen, sie würde seinen Blick auffangen, lächeln – nicht zu schüchtern, nicht zu flirtend – er würde wissend zurücklächeln. Und am nächsten Tag würden sie schon Händchen haltend … nein, so mutig war sie nicht. Stattdessen drehte sie sich zu Chaja und fragte „Hast du meine fünf Euro dabei?“.

„Die hab ich dir doch am Freitag schon gegeben!“

„Achso, ja stimmt, sorry.“

In der Zwischenzeit hatte Tilo die schwarze Jacke in seinen Rucksack gesteckt und seine graue über die Lehne gehängt. Sein Fuß wippte unter dem Tisch. Verstohlen blickte er noch einmal nach links und nach rechts, wo nur eine Wand war, aber nicht nach hinten.

Frau Kramer hatte vorne bereits ihr Notenbüchlein aufgeschlagen und in der Klasse wurde es schlagartig still.

„Wer fehlt mir hier denn noch … ah … Berger. Berger Tilo. Komm doch mal nach vorne, bitte!“  

Tilos Fuß stoppte. Er ließ seine Schultern fallen und stand auf. Frau Kramer schrieb die Aufgabe an die Tafel. Er wirkte verwirrt. Nicht auch das noch, dachte Maren. Wenn er das jetzt verkackt, weil ich diese blöde Jacke … Sie zwang sich, die Aufgabe abzuschreiben. Er rechnete langsam, aber so weit richtig, die Aufgabe war nicht besonders knifflig. Dann vergaß er ein Minuszeichen abzuschreiben, kam auf ein negatives Ergebnis und konnte so den zweiten Teil der Aufgabe nicht beginnen.

„Na, wo hakt’s?“, fragte Frau Kramer auf ihre gewohnt schadenfrohe Art.

Tilo drehte sich zur Klasse um und ließ seine Schultern wieder fallen. Maren formte ein Plus mit ihren Zeigefingern. Und er sah es. Zum ersten Mal sah er sie! Wenn auch nur ihre Hände. Er drehte sich zurück zur Tafel.

„Plus 84 nicht Minus“, sagte er, „Ah, hier …“, er ergänzte das Minus, hielt wieder inne.

Maren atmete auf.

„Gerade noch!“, sagte Frau Kramer, „Gerade noch“, und blickte sich misstrauisch in der Klasse um. Tilo rechnete zaghaft weiter.

„Und? Werden wir heute noch fertig?“, drängelte die Lehrerin.

„Ja“, sagte Tilo, schrieb das richtige Ergebnis hin, 548, ein Herz rundherum und ein Fragezeichen dahinter. „Fertig.“

„Danke, Tilo. Ja, das stimmt so. Und Unterstreichen hätte auch gereicht“, sagte Frau Kramer und alle lachten. Er ging zurück an seinen Platz und kurz, bevor er dort angekommen war, sah er Maren an und lächelte, eine Sekunde nur. Und sie lächelte zurück. Nicht zu schüchtern, nicht zu flirtend, aber von einem Ohr zum anderen.

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