Der zufriedene Metzgermeister

von Elias Vorpahl

Marina legte das Blatt wieder auf den Tisch. Die letzten Sätze klangen noch nach:

… denn früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, und es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.

Marina dachte an ihren Vater. Seine Arbeit in der Schreinerei. Nie erzählte er von seinem Tag. Er ging morgens aus dem Haus und kehrte abends zurück. Sie saßen dann am Esstisch. Das war Pflicht. Er fragte dann nach der Schule, nach dem Musikunterricht und was sie heute gelernt hatte. Ihn nach der Arbeit zu fragen, traute sie sich nicht. Der Fischer genoss seinen Müßiggang. Den Blick aufs Meer. Ihr Vater hatte kein Meer. Er hatte eine Tochter.

„Fin, was glaubst du? Warum empfindet der Tourist am Ende Neid?“

Marina blickte auf. Herr Solm stand vor Fins Bank und wartete auf eine Antwort.

„Der Tourist ist neidisch, weil der Fischer alles erreicht hat, wovon der Tourist noch träumt.“

Hatte ihr Vater schon alles erreicht? Nein. Jetzt sprach Herr Solm sie an: „Marina, was denkst du?“

Sie zögerte. Und musste wieder an das Meer denken. „Ich frage mich“, sagte sie, „was das Meer wohl davon hält, so viele Menschen glücklich machen zu müssen.“

Adriana hinter ihr grunzte. Ihre Freundinnen fingen auch an zu lachen. „Schluss jetzt“, sagte Herr Solm. „Marina, ich finde, das ist ein schöner Gedanke. Adriana, was sagst du dazu? Was würde wohl das Meer denken?“

„Was soll das Meer schon denken? Das Meer denkt überhaupt nicht.“ Die Freundinnen kicherten wieder. Herr Solm ließ die Antworten unkommentiert. Er trat zurück zum Pult und wandte sich an die ganze Gruppe: „Böll schrieb die Kurzgeschichte als er 45 Jahre alt war. Was war davor geschehen? Wirtschaftswunderjahre, Kriegsgefangenschaft, Jahre als Soldat, Studium der Germanistik, Buchhändlerlehre. Er war das achte Kind. Sein Vater Schreiner.“

Marina horchte auf. Schreiner. Wie ihr Vater. Sie blickte aus dem Fenster. Doch statt des asphaltierten Schulhofs und den paar Bäumen sah sie den jungen Heinrich Böll, wie er mit seinen sieben Geschwistern am Abendtisch saß. Sein Vater war da, teilte das Brot. Was sah der Vater von Heinrich Böll in seinem achten Kind? Was erwartete er von ihm?

„Seine Kurzgeschichte rüttelte an dem Verständnis der damaligen Zeit, in der die Aufopferung für den eigenen materiellen Wohlstand durch Arbeit den eigentlichen Lebenssinn darstellte. Ich möchte, dass ihr jetzt aufsteht und euch hier im Zimmer, soweit es geht, von eurem Sitzplatz entfernt.“

Marina stand auf und stellte sich ganz dicht an Fin, der bereits die hinterste Wand im Klassenzimmer für sich entdeckt hatte.

„Blickt auf den Platz, an dem ihr gerade noch gesessen habt. Prägt euch den Platz genau ein. Und schließt jetzt eure Augen.“

Marina spürte das leise Atmen von Fin neben ihr. Herr Solm sprach weiter: „Stellt euch vor, ihr seid 45 Jahre alt. Die letzten 25 Jahre habt ihr gearbeitet. Ihr sitzt dort auf eurer alten Schulbank, haltet inne, und blickt auf das bisher Geleistete. Und jetzt überlegt euch, welche Arbeit ihr die letzten 25 Jahre nachgegangen seid.“

Marina versuchte es sich vorzustellen. Wie sähe sie in 30 Jahren aus? Zwei weitere Leben. Was macht das mit einem? Und dann sah sie sich: Eine Frau, die frei war. Die niemandem mehr etwas beweisen musste. Vater war stolz auf sie. Sie hatte Bücher gelesen. Und wusste Dinge. Welche Arbeit sie nachgehen wollte, wusste sie. Nur ausgesprochen hatte Marina es noch nie. Was würde Vater sagen?

„Davina, was siehst du?“, fragte Herr Solm in die Gruppe.

„Floristin.“

„Und du, Fin?“

„Metzgermeister.“ Marina konnte seine geschwellte Brust fast fühlen. Sein Vater war auch Metzger. Sie musste schmunzeln. Für Fin war die Welt so klar.

„Marina, welchen Beruf wirst du ausüben?“

Frei sein, dachte sie wieder. Frei sein.

„Ich möchte Schriftstellerin werden.“

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  1. „Der zufriedene Fischer – Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ von Heinrich Böll: https://www.geschichten-netzwerk.de/coaching-therapie/geschichten/der-zufriedene-fischer/

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