von Victoria Grader
Nathanael saß vor einer Schoko-Mandeltorte mit 22 brennenden Kerzen und grinste zufrieden in sich hinein. Die Freude dämpfte das Geräusch von Mutters Stimme, die ihm gerade aufzählte, wofür er alles dankbar zu sein hätte.
Er nickte, lächelte. Achtete darauf, interessiert zu wirken und spielte ihr den guten Sohn, den er sonst nicht hinbekam. Doch die unerträgliche Last auf seinen Schultern war gestern Nacht verschwunden, genau in dem Moment, als er beschlossen hatte, sich umzubringen.
Zwei Jahre hatte Nathanael alle möglichen Szenarien durchgespielt. In jedem Fall musste es schnell gehen und ihn mit Würde von der Bildfläche verschwinden lassen. Er wollte seine Mutter ja nicht quälen, nur ein eindeutiges Zeichen setzen. Das Letzte, was er für sie tun konnte, war noch ein paar Stunden bei ihr zu bleiben, Kuchen zu essen und freundlich zu nicken. Am Ende des Tages würde sie beruhigt einschlafen, während er endlich tat, was er sich hunderte Male vorgestellt hatte.
Obwohl seine Mutter Katholikin war, konnte er ihren Glauben nicht teilen und sich kein Leben nach dem Tod vorstellen. Danach war es eben vorbei. Wie sollte es auch anders sein? Wenn ein Körper tot war, dann war das Bewusstsein eben zu Ende und auch das Gefühl und das Ich und mit ihm seine Sorgen, Süchte und Schmerzen. Aber er verstand, warum sich schwache Menschen mit anderen Vorstellungen trösten mussten. Die Wahrheit konnte nicht jeder ertragen. Aber er war bereit, ihr ins Gesicht zu sehen.
Am Abend zeigte sein Handy 12 Anrufe in Abwesenheit. Er sah die Liste der Anrufer durch, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wer genau an ihn gedacht hatte. Sarah, Luisa, Anna … die hübschesten Mädchen aus dem Rhetorik-Seminar für Naturwissenschaftler. Das seltsame an hübschen Mädchen war, dass sie sich besonders für das interessierten, was sie nicht bekommen konnten.
Keine von ihnen würde einen Rückruf erhalten.
Dann gab es noch zwei Anrufer mit unbekannter Nummer und einen von Lukasz.
Er fuhr sich durchs Haar. Ihm war er wirklich eine Erklärung schuldig.
Die letzte Begegnung war seltsam gewesen. Nathanael hatte den Tag in der Bibliothek verbracht und war völlig abgestumpft gewesen, von kalten Formeln, die den Zufall berechnen und brechen wollten.
Als er abends auf dem Weg zur U-Bahn war, lief er Lukasz genau in die Arme. „Wo kommst du her?“, fragte er Nathanael.
„Vom Lernen.“ Keine Gegenfrage. Nach einem Tag im Mathebau hatte er oft keine Lust mehr auf Menschliches.
„Bock auf ein Bier?“
Er hatte Bock auf das Bier aber nicht auf ein Gespräch, also verneinte er und besorgte auf dem Heimweg ein Helles, das er sich alleine am Küchentisch genehmigte. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er dachte, er wäre in Lukasz verliebt. Aber das war vorüber. Die Einsamkeit passte zu ihm.
Er musste einfach diesen Tag durchstehen. Vielleicht auch noch ein paar Zeilen zum Abschied hinterlassen. In seinem Zimmer suchte er seinen Moleskine heraus, in dem erst ein paar Seiten beschrieben waren.
Er hatte dieses Jahr nur ein paar Tage Kalender geführt, dann aber jede Struktur verloren. Manchmal war es ihm unmöglich das Bett zu verlassen. Zuhause hätte ihn seine Mutter dazu gezwungen, aber er lebte in einer Wohngemeinschaft im Norden der Stadt. Die Dunkelheit im Herbst und Winter machte ihm zu schaffen. Dann kam ihm auch das Lernen nicht mehr wichtig genug vor, um morgens aufzustehen. Er lehnte Einladungen von Freunden ab und ignorierte Partys aus dem Bekanntenkreis.
Er hatte keine Lust mehr auf Frauen, die sich ihm an den Hals warfen. Keine Nerven mehr für Männer, die ihn ausnutzten. Lange genug hatte er nach Liebe gesucht und dann herausgefunden, dass er keine spürte und deshalb auch keine verdiente.
Früher hatte er sich betrunken, gekifft oder etwas eingeworfen. Er war fremden Menschen an seltsame Orte gefolgt. Auf der Suche hatte er gelernt, dass es nichts zu finden gab. Irgendwann war da nur noch ein schwarzes Loch, das alles spaghettisierte und ihn mit Gähnen auf die Welt reagieren ließ.
Er begann zu schreiben: „Liebe Alle.“
Wie sollte er den Menschen, die sich gerne im Kreis drehten erklären, dass er es leid war? Mit jedem Schritt, den man unbeschwert ging, belastete man doch nur einen Anderen. Mit jedem konsumierten Erfrischungsgetränk unterstützte man den Aufkauf von Wasserquellen und verschuldete, dass Menschen verdursteten. Jedes Paar Schuhe, ein Stückchen Kinderarbeit an den eigenen Füßen.
„Denk nicht so viel! Nimm das Leben nicht so ernst! Lass uns was schönes Unternehmen …“, hatte Lukasz letzten Sommer darauf erwidert.
Das Leben nicht ernstzunehmen, war eine Taktik, die ihm fernlag, weil sie doch die Ursache des Grauens darstellte. Und das bisschen Kino und Pizza-Essen, das man sich dann als Ablenkung gönnen konnte, das war wirklich langweilig!
„Zum Teufel mit dieser Einöde, die sich Leben schimpft!“, sagte er zu seinem Moleskine und schrieb: „Ich breche aus dem vorgefertigten Plot. Und das ist wirklich seit langer Zeit das Einzige, das mir Freude bereitet. Das Leben wird um seiner selbst willen gelebt, mir reicht das nicht. Gewiss sehen wir uns wieder, auf der anderen Seite. Ich hoffe, dass euch das meinen Freitod erleichtert. Viel Glück noch auf euren Wegen.“
Dann unterschrieb er, pfefferte das Notizbuch in den Rucksack und legte die Kleidung zu den Kletterschuhen, damit alles bereit war. Er machte das Licht aus und stellte den Wecker. Um zwei Uhr würde er aufstehen und sein Leben beenden.
Nathanael erwachte, weil ihn Sonnenstrahlen in der Nase kitzelten und er nießen musste. Er öffnete die Augen. Die digitale Uhr zeigte, dass es neun Uhr morgens war. Der Wecker hatte um zwei geklingelt, nur war er einfach nicht aufgewacht. Verflucht! Er fühlte sich wie der schlimmste Versager weit und breit. Er hatte seinen eigenen Selbstmord verschlafen.
Tagsüber bringen sich die Leute nur selten um, weil fast überall Publikum ist. Sich vor die U-Bahn zu werfen war keine Option. Er wollte nicht Schuld sein, an Traumata und qualvollen Erinnerungen.
Ein einsamer Gletscher wäre der perfekte Ort. Aber die waren so weit weg. Was für eine Qual, noch einen Tag durchstehen zu müssen. So viele Stunden. Verschwunden war die Leichtigkeit von gestern. Während er die Rollos herunterließ, klopfte es an der Tür. Eigentlich wollte er niemanden sehen, deshalb reagierte er nicht. Dann ein weiteres, festeres Klopfen. Er seufzte und öffnete murrend die Tür. Lukasz stand im Türrahmen.
„Ich hoff’, es ist in Ordnung, dass ich dich hier so überfalle. Aber ich hatte einfach überhaupt kein gutes Gefühl und so … Hab dich gestern angerufen.“ Lukasz sah für einen Augenblick ehrlich besorgt aus.
„Is’ ok…“, nuschelte Nathanael.
„Hast du Lust auf einen Spaziergang?“, fragte Lukasz.
Nathanael zuckte mit den Schultern. „Denk’, ich bin heute keine gute Gesellschaft.“
„Ach komm, Nathanael! Dann werd ich dir halt heute gute Gesellschaft sein.“ Ein spitzbübisches Grinsen huschte über Lukasz‘ Gesicht.
Nathanael kam ins Grübeln. Tatsächlich könnte ein kleiner Abschiedsausflug ein nettes Ritual sein. Dann wäre der Tag schnell vorüber, er könnte am Abend seinen Wecker neu stellen und dieses Mal das Handy aufs Kopfkissen legen … Da war sie wieder, die Leichtigkeit.
„Keine Drogen, kein Alkohol. Und am allerwichtigsten, kein Getatsche.“
„So, so, mein Lieber … Heute willst du wohl wirklich keinen Spaß haben!“, seufzte Lukasz. Zwei Stunden später saßen sie auf einem Hügel im Umland und öffneten die erste Flasche Bier.
Nathanael hatte das Gefühl, dass sich der Frühling heute, an seinem letzten Tag, besonders viel Mühe mit der Kulisse gegeben hatte. Das satte Grün im Sonnenlicht und der Duft nach Bärlauch erschienen ihm unreal und willkürlich.
„Schön haben wir es, ne?“, lächelte Lukasz, während er das Gesicht in die Sonne hielt.
„Dann verlink’ uns doch gleich mal auf Facebook!“, antwortete Nathanael zynisch. „Damit wir auch später noch wissen, dass wir es schön hatten. Damit alle sehen, dass wir so richtig Spaß hatten.“
Lukasz nahm einen Schluck und zündete sich eine Zigarette an.
„Ich glaub, dann können wir uns gar nicht mehr retten, vor Mädchen, die meinen Platz einnehmen wollen“, grinste er und paffte ein paar Ringe in die Luft.
„Dann gehe ich aber sofort wieder heim“, stellte Nathanael klar und Lukasz musste lachen. Seine Augen blitzten auf und das Funkeln erinnerte Nathanael an früher.
Ihre heutige Begegnung war für Lukasz schon jetzt etwas Besonderes. Ein nettes Beisammensein nach längerem Abstand, eine verschlossene Tür, die sich wieder öffnete.
Nathanael bekam ein schlechtes Gewissen. Morgen würde er tot sein und Lukasz wird immer und immer wieder dieses letzte Gespräch nach Hinweisen absuchen, es vielleicht sogar als verpasste Gelegenheit sehen, Nathanaels Leben zu retten. Er würde Schuldgefühle haben und Phrasen finden, an denen er sich aufhängen könnte.
Als ob Nathanaels Miene diesen Gedanken verraten hätte, sagte Lukasz: „Irgendwas ist mit dir. Ich merk doch, das irgendwas ist.“ Er schüttelte den Kopf und sah zu Boden. „Ich mein, du warst nie ein Kind von Fröhlichkeit …“ Er spielte mit der Flaschenkrone. „Aber jetzt kommt es mir noch viel schlimmer vor. Und vielleicht geht es mich nichts an, vielleicht aber doch. Ich weiß nicht, ob ich etwas falsch gemacht habe.“
Nathanael hob erstaunt die Augenbrauen. „Nein. Du doch nicht. Es ist die Welt, die mich so frustriert. Und vielleicht ist es die Welt in Kombination mit meinen eigenen Entscheidungen.“
Kurze Stille. „Du Nathanael, was für Entscheidungen denn?“, fragte Lukasz.
Er wollte keine konkreten Beispiele aufzählen, also brummte er nur: „Fehlentscheidungen.“ Dann zuckte er mit den Schultern und sagte: „Ich ertrag es einfach nicht mehr zu leben, wenn der Sinn des Ganzen nur Arbeit und Konsum ist. Das Zeug, das dann Vergnügen genannt wird, ist nur eine Illusion von Freiheit oder Selbstverwirklichung. Das ist doch alles gar nicht echt. Das ist doch nur der Geist des Kapitalismus, der dich zum Zahnrad macht. Und ich will kein Zahnrad mehr sein.“
Lukasz saß mit großen Augen da. Natürlich kannte er diese Argumentation aus früheren Tagen, aber so drastisch hatte Nathanael es noch nie formuliert.
„Nathanael, kannst du den Sinn nicht im Zwischenmenschlichen sehen? Wenn es doch sonst nur Arbeit für dich gibt?“ Lukasz flüsterte fast.
Die Frage war berechtigt. Nathanael wollte Lukasz nicht verletzen. Er hatte das Gefühl, dass es langsam nicht mehr um seine Krise ging, sondern auch um das, was zwischen ihnen beiden vorgefallen war. Wenn er ihm sagen würde, dass er eigentlich nur mit ihm intim wurde, weil ihn die Frauen langweilten, wenn er ihm sagen würde, dass es ihn nur noch mehr abgestumpft hatte, dass er es im Nachhinein sogar bereute, dann würde Lukasz leiden. Also wich er aus.
„Ich weiß nicht, ob es an der Beziehung zu meiner Mutter liegt, oder am frühen Tod meines Vaters oder an Facebook? Aber … Ich komme irgendwie nicht so gut mit Beziehungen klar. Und mit Nähe …“, er bemühte sich, direkt in Lukasz Augen zu sehen.
„Ja, das ist mir schon aufgefallen“, kommentierte dieser seine Aussage. „Aber Nathan, wenn dir der Alltag hier nicht gefällt, dann geh doch einfach woanders hin. Ich mein, wir leben hier ja in ’ner freien Welt, da gibt es auch andere Gesellschaftsstrukturen…“
Wenn er jetzt mit seiner Mutter kommen würde, dann hätte er sich selbst widerlegt. Er schwieg und schüttelte den Kopf. „Und wohin dann? Soll ich mich einem afrikanischen Wandervolk anschließen, oder wie? Ich halte es doch nirgends aus. Ich muss doch meinen Kopf immer mitnehmen, da komm’ ich doch gar nicht raus.“
„Ich weiß wie du rauskommst“, lachte Lukasz und hob die Bierflasche zum Himmel. „Diese und noch viele andere, tolle Substanzen wurden uns geschenkt, damit wir uns daran bereichern können …“, frohlockte er.
Nathanael schüttelte traurig den Kopf. „Ich hab das Gefühl, dass diese tollen Substanzen irgendwie auch daran Schuld sind, dass ich alles so sehe, wie ich’s sehe. Weißt du?“
Lukasz sah verwirrt aus. Er musste es ihm erklären. Irgendwie verständlich machen.
„Ich werd einfach lebendig nicht mehr glücklich, glaub ich. Hab zu viel verbaut auf der Suche nach was Schönem in diesem Unsinnsdasein. Und jetzt hab ich keine Lust mehr den Plot weiterzuführen. Manchmal glaube ich, dass der einzige, richtige Weg für mich, von einer hohen Brücke führt.“
Nun war es raus. Nathanael hatte alles gesagt und es gab nichts mehr zu ergänzen.
Stille. Gefühlte, ewige Stille.
Doch dann kamen Worte über Lukasz Lippen: „Wenn du bereit bist zu sterben Nathanael, dann erst kannst du wirklich Leben. Wovor fürchtest du dich jetzt noch? Das Leben zu verlieren, ist es ja sicherlich nicht. Und wenn dir der Plot nicht gefällt, dann solltest du das Leben jede Minute so nehmen, als ob du es jederzeit hergeben könntest. Riskier es! Es ist ja nichts mehr wert.“
Nathanael musste sich eingestehen, dass er das nicht erwartet hatte. So hatte er es einfach noch nie gesehen. Natürlich war ein Vorteil des Freitods, dass man sich aussuchen konnte, wie man verendete. Aber Lukasz’ Idee gefiel ihm.
„Lass uns dein altes Ich beerdigen“, schrie Lukasz, der scheinbar wieder seine Gedanken gelesen hatte. „Und dann wirst du neu geboren, glaub mir, das sprengt den Plot von innen heraus!“.
Ein schönes Ritual wäre gewesen, den Abschiedsbrief zu verbrennen. Aber Nathanael war sich sicher, dass er das nicht wollte. Nur weil er gerade seine Sichtweise geändert hatte, hieß das noch lange nicht, dass es in der Praxis funktionierte. Sein Leben jeden Moment so zu leben, als könne er es jederzeit hergeben, bedeutete für ihn auch, den Abschiedsbrief immer in der Tasche zu haben.
„Lass uns eine Weide pflanzen! Hier in der Nähe gibt es eine, da können wir einen Ast abschneiden, als Ableger“, freute sich Lukasz, war schon aufgestanden und lief in Richtung eines Waldweges, der steil bergab ging. Bald waren sie am Ufer eines Flusses angekommen.
Der Baum war riesig und hatte wirklich etwas trauriges an sich. Lange Weidenzweige hingen wie Haare bis zum Boden, so dass der Baum gebückt wirkte. Als ob er sein Gesicht dem Wasser zugewandt hätte, damit die Tränen direkt in den Fluss fallen konnten.
Andächtig holte Nathanael sein Taschenmesser aus dem Rucksack.
Lukasz suchte die Zweige ab, bis er einen mit vielen Knospen gefunden hatte. „Den hier Nathanael, den!“, sagte er und klammerte sich am Baumstamm fest.
Nathanael hob ebenfalls seine Hand auf den Stamm und befühlte die Rinde.
Er atmete die feuchte Luft und schloss die Augen um sich im Stillen für den Zweig zu bedanken, der ihm symbolisch das Leben retten sollte. Ein kleiner Schnitt und das weiße Blut der Trauerweide lief ihm über die Hand. Er würde sie in den Garten seiner Mutter pflanzen.
Zuhause packte er noch einmal seinen Rucksack. Diesmal legte er sein Abschiedsbüchlein ganz nach unten und stopfte seine dicken Wintersachen oben drauf. Dann nahm er die Vase mit dem Zweig, der Wurzeln ziehen sollte vom Tisch und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Er würde im Haus seiner Mutter warten, bis der Ableger bereit war. So lange hätte er Zeit sich von seiner Mutter zu verabschieden, ihr alles zu erklären, Flüge zu buchen und vielleicht sogar eine neue Ausrüstung zu kaufen. Dann wäre seine Auferstehung vollendet und er würde seinem Plot eine neue Chance geben: Denn irgendwo in Spitzbergen gab es einen Gletscher, der nur auf ihn wartete.
Und was dann passieren würde, sollte die Natur entscheiden.