Würde

von Elias Vorpahl

Das elegant gekleidete Wort betrat erneut die Bühne. Sie trug jetzt ein schwarzes Abendkleid mit samtroten Handschuhen. Kerzengerade stand sie dort. Ihre Geschichten waren gut gewesen, dachte ich. Die eine hatte von einem Historiker erzählt, der auf der Suche nach seinen Ahnen einen Stammbaum hinaufgeklettert war, von wo er dann aber nicht mehr herunterkam. Eine andere Geschichte handelte von einem kleinen Prinzen, der Dinge sah, die man nur mit dem Herzen sehen konnte. »Die Würde beginnt«, sagte der Gastgeber der Lesung und verließ die Bühne. Meine Augen richteten sich auf das Wort, das jetzt ganz allein dort oben stand. Mit samtener Stimme nannte sie den Titel: »Würde.« Ihre Geschichte heißt genau wie sie, dachte ich, und lauschte.

»Als junges Mädchen war ich sehr unsicher. Lange Zeit versteckte ich mich hinter Floskeln. Wenn mich ein Erwachsener fragte, was ich gerne täte, antwortete ich schüchtern: ›Ich würde sagen, alles und nichts.‹ Als zum ersten Mal ein Junge vor mir stand und fragte, ob ich seine Freundin sein wolle, antwortete ich verlegen: ›Ich würde sagen, vielleicht, vielleicht aber auch nicht.‹ Ich wollte gerne reisen, hatte aber zu große Angst davor, meine Heimat zu verlassen. Ich wollte neue Sprachen lernen, traute mich aber nicht, die fremden Worte auszusprechen. Irgendwann wollte ich lieben, fürchtete mich aber davor, mein Herz an den Falschen zu verschenken. Und als ich schon längst wusste, dass mir im Leben die Wortmalerei am allermeisten bedeutete, antwortete ich auf die Frage, was ich denn malen würde, immer noch ausweichend: ›Ich würde sagen, dieses und jenes.‹ Die Wörtchen, die ich malte, zeigte ich niemandem. Selbst meine Eltern bekamen sie nicht zu sehen. Die dicke Mappe versteckte ich ganz hinten im Regal. Nur wenn ich sicher war, dass mich niemand stören würde, holte ich sie hervor. Dann zog ich meine Linien. Anfangs noch einfache Gedichte. Später auch Wortspiele und die ersten Märchen. Dass ich irgendwann hier auf der Bühne stehen würde, ahnte ich damals nicht.« Die Würde machte eine kurze Pause, blickte in Gedanken versunken in das Licht der brennenden Kerze vor ihr. Dann schaute sie wieder zum Publikum. »Das Erweckungserlebnis hatte ich viel später. Ich besuchte eine kleine Kunstbühne. Da stand ein Wort im Kerzenlicht, das viel jünger war als ich selbst. Voller Selbstbewusstsein trug es seine Texte vor. Seine Zeilen waren nicht besonders gut, entbehrten jeglichen Rhythmus. Die Sprachbilder waren zu unscharf, der Spannungsbogen verkrümmt. Trotzdem faszinierte mich sein Auftritt. Wie konnte dieses junge Wort von sich selbst so überzeugt sein? Warum war es so mutig? Noch in derselben Nacht zog ich die dicke Mappe aus dem Regal. Der Einband hatte Staub gefangen. Ich betrachtete die Worte, die über die Jahre entstanden waren. Ein paar Geschichten legte ich nach oben. Ich stellte mir vor, selbst auf einer Bühne zu stehen. Meine Märchen vorzutragen. Wie würden sie ankommen? Was meine Freunde sagen? Würden sie mich auslachen? In jener Nacht beschloss ich, nicht mehr bloß im Konjunktiv zu leben. Ich wollte Geschichtenerzählerin werden, es auf einen Versuch ankommen lassen. Und dazu gehörte es, meine Texte mit der Welt zu teilen.

Kurz vor dem Auftritt pochte mein Herz. Alle waren gekommen. Auch meine Eltern waren da. Mit der dicken Mappe in den Händen trat ich auf die kleine Bühne. Zuerst zitterten meine Hände. Doch dann geschah etwas mit mir. Als ich dort im Licht der Kerzen stand und in die erwartungsvollen Gesichter des Publikums schaute, beruhigten
sich meine Hände plötzlich. Meine Eltern erkannten mich nicht wieder. Aus ihrer kleinen Tochter, einem schüchternen würde, war die Würde geworden. Dann begann ich, meine erste Geschichte zu erzählen.«

Die Würde verneigte sich.

 

Illustration von Julia Marie Stolba aus dem Roman Der Wortschatz.

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