Sehnsucht nach sich selbst

von Sophia Thomsen

Wenn Sidonie abends im Bett lag, zögerte sie den schrecklichen Moment hinaus, in dem sie kurz vor dem Einschlafen zerfließen würde und drängte die Nacht nach hinten. Eingehüllt in ihren Herzschlag und im sanften Licht des Handydisplay suchte sie nach sich selbst, in einer besseren Version. Diese kleidete sie in Träume, hüllte sie in Stoffe und Schnitte, die sich schmeichelnd an sie schmiegten und wisperten: Wie schön du doch bist. In Schuhen, die sie leichter auftreten lassen würden, kam sie sich, wie sie sein sollte, einen Schritt näher. Ihr Leben, wie es sein könnte, verwahrte sie in Seidenpapier eingepackt in Kartons.

Jetzt hatte Sidonie gerade einen Schuh angezogen. Mit dem Smartphone am Ohr hüpfte sie auf einem Bein wie ein seltsamer Vogel und angelte mit bestrumpften Zehen nach dem zweiten Schuh, der mit offenem Maul da lag wie ein sterbender Fisch. Währenddessen kroch Janina in ihr Ohr, zwängte sich in den Gehörgang und klopfte an das Trommelfell. Mhm, brummte Sidonie abwesend auf das Klopfen und Kratzen, oder: Schön, und versuchte dabei, das Gleichgewicht zu halten. 

Eva kommt morgen Vormittag. Sie war zwei Wochen da. Aus Italien.

Sidonie horchte der Stimme nach und schlüpfte ihr hinterher um zu sehen, ob da nicht noch etwas käme. 

Da fehlte ein Satz wie: Magst du nicht auch vorbeischauen? Sie würde sich freuen, zum Beispiel. Ihr habt euch ja auch lange nicht gesehen. Selbst als sie aufgelegt hatte, wollte sie noch einmal nach den Worten greifen, sie auf links drehen, schütteln und sehen, ob noch etwas rausfiele. Das Gespräch hatte sich in ihrem Kopf eingenistet, schlug Wurzeln und trieb aus. Sehr gerne, schön, das du an mich gedacht hast. Ich habe von Eva ewig nichts gehört. Du und Eva, ihr wart doch unzertrennlich. Ja, es hat sich vieles geändert. Es war wohl viel los bei ihr. So ist das manchmal. Trotzdem – was zählt, ist dass sie jetzt da ist. Sie freut sich wirklich, dich zu sehen. Soll ich etwas mitbringen? Ich könnte etwas Schnelles machen, etwas ganz Unkompliziertes. 

Sie korrigierte ihren Kopfdialog – sie würde nicht fragen. Einfach etwas mitbringen. Der kurze Augenblick der Spannung zwischen Klingeln und dem Öffnen der Tür, Janina mit aufgerissenen Augen: Oh! Dahinter, im Gang, Evas Lächeln, keinen Tag älter, strahlend. Begrüßt werden, gesehen werden.

Wie auf einem Sprungbrett zu stehen, an der Kante festgekrallt hinunterblicken, und dann springen und das Wasser schlägt über einem zusammen. So ist es, in Gefühlen zu ertrinken

Zwei Sätze hämmerten in ihr: Eva war da. und: Eva hat sich nicht gemeldet.

Eva war früher die andere Hälfte ihrer Gedanken gewesen.

Noch könnte sich alles entwirren, eine Unachtsamkeit, ein Missverständnis. Etwas, das sich leicht verzeihen ließe. Das Signal einer Nachricht, das Läuten des Telefons würde die Schale um sie durchbrechen, würde Sidonie ein Teil der morgigen Welt aus Freundinnen sein lassen. 

Ich bin wieder da. Morgen besuche ich Janina. Magst du nicht auch dazu kommen? Ich würde mich freuen. würde Eva in Sidonies Ohrmuschel träufeln.

Sie setzte den bestrumpften Fuß ab und schaute schwankend auf die Uhr, die Geschäfte hatten noch eine halbe Stunde auf. Sie zwängte ihre Zehen in den zweiten Schuh und verließ die Wohnung, vergaß dabei ihr Smartphone und spann ein Fädchen Hoffnung, an dem sie später zurück finden würde – eine unbekannte Nummer wäre am Display zu sehen und sie könnte zurückrufen. 

Ich habe ein neues Handy, ja, ich hatte deine Nummer nicht mehr. Janina hat sie mir gegeben, ich habe sie zufällig getroffen.  

Als beim Heimkommen die Tür hinter ihr zuschnappte wie eine Falle und sie von der Welt trennte, zögerte sie den unausweichlichen Moment noch etwas hinaus. Dann der stolpernde Herzschlag – keine Anrufe während sie fortgegangen war. Trotzdem würde sie kochen, mit einer kleinen Vorfreude auf Vorrat in sich, für alle Fälle. Etwas Einfaches und trotzdem Besonderes, so wie sie selbst gerne gesehen werden wollte. Bescheiden würde sie abwiegeln: Ach, das. Das ist doch nichts, ich habe einfach schnell etwas gemacht, aus dem was da war. So könnte sie sich noch sonnen in der vorgestellten Bewunderung der beiden: Ich wusste garnicht, dass du so gerne kochst. 

Sie würde sich morgen Vormittag sicherheitshalber etwas vornehmen, spazieren gehen, hoffentlich würde das Wetter schön. So könnte sie sich etwas verspäten: Ich war unterwegs, mein Handy war leer, ein Glück dass ich es noch geschafft habe. Sicherheitshalber würde sie vorher eines der flüsternden Kleider anziehen, dann könnte sie die beiden anderen umarmen und teilhaben an der Dreisamkeit und sagen: Ich konnte mich gar nicht fertig machen, Oh je, der Dreck an meinen Schuhen. Schön, dass es doch geklappt hat. Eva, was für eine Freude, dich zu sehen. 

Sidonie hatte Sehnsucht nach sich selbst, wie sie sein könnte, in Gesellschaft.

Photo by Masha Raymers from Pexels

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